Kay Susan
wird einfach mit ihm fortlaufen und nie wieder an mich denken. Sie muß mich sehr hassen, um sich so zu verhalten. Eigenartig, ich habe nie vermutet, daß sie mich wirklich haßt. Im Laufe meiner Unterweisung muß ich eine äußerst gute Schauspielerin aus ihr gemacht haben.
Wie gern würde ich jetzt sterben. Genau jetzt, in dieser Minute! Ich würde die letzte Zuckung dieses müden und schlaffen Muskels in meiner Brust willkommen heißen, doch durch irgendeine unglaubliche Ironie schlägt mein Herz mit seltsamer Gelassenheit, als habe es nie auch nur einen Augenblick versagt.
Auf was also willst Du hinaus, Gott? Welchen perversen kleinen Streich willst Du mir noch spielen? Gewiß wirst Du mir nach all dem keine Wunderheilung gewähren und mir das Recht verweigern, tödlich getroffen zu sein.
Du hast mir ein Leben verweigert. Willst Du mir nun auch noch den Tod verweigern? Soll das die Strafe sein für meine unsäglichen Verbrechen gegen die Menschheit – weitere zwanzig Jahre Einsamkeit auf dieser Erde?
Unter meinem hoch aufragenden Turm liegt Paris in all seinem Glanz, unzählige Lichter flackern auf Haussmanns sauber angelegten Boulevards. Nichts könnte einen so tiefen Sturz überleben. Alles, was sie finden würden, wäre eine zerschmetterte rote Masse in Abendkleidung, unkenntlich, nicht zu identifizieren.
Ich brauche mich nur fallen zu lassen . . .
Selbstmord – die äußerste Sünde, das einzige Verbrechen, das zu beichten wir nie Gelegenheit haben. Diebe und Mörder mögen in den Himmel kommen, doch der Selbstmörder, der nie die Absolution erhält, kann nicht im Zustand der Gnade sterben und muß ewig brennen.
Deshalb also hast Du mich hier hinaufgeführt, Gott! Du dachtest, ich sei dumm genug, in Deine Falle zu gehen. Eine unbesonnene Wahnsinnstat von mir, und Dir wäre die Notwendigkeit erspart geblieben, die ganze Ewigkeit hindurch Dein häßliches, mißgestaltetes Geschöpf ansehen zu müssen.
Nun, ich brauche Dich nicht. Ich habe Dich nie gebraucht. Es gibt noch einen größeren Herrn, der immer loyal bleibt, selbst einem rückfälligen Lehrling gegenüber, einen Herrn, der mich sogar jetzt noch daran erinnert, daß mein Lehrvertrag mit ihm nie gelöst wurde – nur verschoben.
Ich bin nicht in Versuchung. Ich bin nicht mehr allein in der Finsternis. Vor meinen Augen sehe ich tausend kleine Teufel, die schwarze Kerzen entzünden am Rand des Weges, der zum Abgrund führt, zum blendend schönen Abgrund.
Eine kühle Brise läßt meinen Umhang wehen wie die Schwingen des Todesengels, wie einen dunklen, hoch aufragenden Schatten, aufsteigend wie der Phönix aus der Asche, böswillig, allmächtig . . .
Das Phantom der Oper!
∗ ∗ ∗
»Es sind noch gut drei Stunden bis zur Vorstellung. Warum gehen wir nicht jetzt, auf der Stelle, ohne uns länger aufzuhalten?«
»Das kann ich nicht tun. Was, wenn Erik heute abend in die Vorstellung kommt und mich nicht ein letztes Mal singen hört? Oh, Gott, warum habe ich mich von ihm überreden lassen?«
»Christine, um Gottes willen! Du hast doch deine Meinung nicht geändert?«
»Ich glaube . . . ich glaube, ich sollte singen . . . die Direktion . . . «
»Ach, die Direktion. Mit der werde ich schon fertig. Sie brauchen nicht zu denken, daß sie dich mit irgendeinem dummen Vertrag halten können!«
»Bitte, keine Szene, Raoul, nicht wegen drei Stunden. Hast du eine Loge für heute abend?«
»Nein. Ich wußte nicht, daß du auftreten würdest, also habe ich mir nicht die Mühe gemacht, eine zu nehmen.«
»Dann lauf zur Kasse und schau, was sie für dich tun können. Es muß doch noch irgendwo einen freien Platz geben.«
Raoul schob die Kapuze meines Umhangs nach hinten und betrachtete mich einen Augenblick lang mit bestürzender Intensität.
»Ich soll Loge Fünf verlangen, nicht wahr?« fragte er kühl. Ich biß mir auf die Lippen und wandte den Blick ab.
»Wird er dort sein?« beharrte Raoul störrisch. »Bist du deshalb so entschlossen, heute zu singen?«
»Ich weiß wirklich nicht, was er heute abend vorhat. Doch solange auch nur die kleinste Chance besteht, daß er vielleicht in die Vorstellung geht, muß ich singen. Kannst du das verstehen? Ich weiß keinen anderen Weg, um ihm Lebewohl zu sagen.«
Raoul sah aus, als wolle er darüber streiten, doch dann gab er unerwartet erschöpft nach.
»Nun gut«, stimmte er traurig zu, »wenn du das wirklich willst, dann werden wir warten. Vielleicht ist es am besten so. Vielleicht sollte ich hören, wie du ihm
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