Kay Susan
warten. Ich werde nicht mehr hierher zurückkehren, nicht einmal, um mich umzukleiden, denn der bloße Anblick des Spiegels würde ausreichen, um meine Entschlossenheit zur Flucht ins Wanken zu bringen.
Ich weiß, daß ich nicht das Rechte tue, und doch scheint es keine andere Wahl zu geben. Wie kann ich zu Erik zurückgehen, wenn ich zu große Angst habe, nein zu sagen, und doch auch nicht ja sagen kann? Wie kann ich seinen Kummer mitansehen, ohne den Verstand zu verlieren? Oh, Erik, warum mußte ich diejenige sein? Du hast für deine leidenschaftliche Hingabe eine schüchterne, ängstliche Maus gewählt. Wenn es einen liebenden Gott gäbe, stünde dir eine prachtvolle junge Löwin zu.
Wie könnte ich dich heiraten und dir deine Rechte als Gatte verweigern? Wie könnte ich dich in unserer Hochzeitsnacht strafen, indem ich mich abwende und dir die körperliche Liebe nicht gewähre? Keine Frau auf dieser Welt ist je so geliebt worden, wie du mich geliebt hast. Warum ist das nicht genug? Warum kann ich den schrecklichen Abgrund nicht überbrücken, der zwischen uns liegt?
Ich liebe dich, Erik, ich liebe dich auf so viele verschiedene Arten, aber meine Liebe ist die Liebe eines Kindes, das Angst hat, erwachsen zu werden. Kinder laufen fort und verstecken sich, wenn sie in eine Situation geraten, mit der sie nicht fertig werden, wenn sie sehen, daß der Traum vorbei ist und statt dessen eine erschreckende Wirklichkeit droht. Meine Liebe ist nur ein zerbrochenes kleines Spielzeug, das zu besitzen ich mich schäme. Weine nicht um mich, Erik, ich war deiner Tränen nie würdig. Was ich Raoul antue, ist fast so schlimm wie das, was ich dir angetan habe, aber ich bin zu erschöpft, um seiner Entschlossenheit länger widerstehen zu können. Ich will nur, daß man mir die Entscheidung aus der Hand nimmt. Er ist so begierig, mich aus meiner Versklavung zu reißen, und plötzlich ist der einzige Ausweg, den ich sehe, mit ihm fortzugehen. Gott weiß, daß ich nie den Mut finden würde, aus eigener Kraft zu gehen.
Ich bin ganz sicher, daß Raoul keine Vorstellung vom Preis des Sieges hat. Vor all diesen Jahren, als er ins Meer lief, um meinen Schal zu holen, schien er ehrlich erstaunt, daß er dabei bis auf die Haut durchnäßt wurde.
Ich glaube, er wäre heute vielleicht ähnlich erstaunt, wenn er feststellt, daß man nicht unbeschadet durch Feuer geht.
Du hast mir so viele schöne Geschichten erzählt, Erik. Du hast mich gelehrt, daß sogar Märchen ein tragisches Ende nehmen können.
Die weiße Rose und die Nachtigall wurden von Allah bestraft, weil sie eine verbotene Liebe gestohlen hatten.
Irgendwie glaube ich, daß keinem von uns ein glückliches Weiterleben bestimmt ist.
Die Vorkehrungen waren ganz einfach zu treffen – einfach für mich, heißt das.
Nach einer Stunde in meinem Laboratorium hatte ich alle Materialien, die ich brauchte, und schon lange vor dem Aufgehen des Vorhangs war jede der acht Stahltrossen, die die Gegengewichte von Garniers Kronleuchter hielten, mit Sprengstoff versehen. Alle acht waren mit einem Zeitzünder verbunden, und die Menge des Sprengstoffs war sorgfältig so bemessen, daß sie Drahtseile von der Dicke eines Männerarms durchtrennen konnte.
Ich arbeitete mit kühlem Sachverstand, ohne jedes Gefühl, und als ich fertig war, versteckte ich mich hinter dem Bühnenbild, in einen roten Umhang mit Kapuze gehüllt, einer genauen Nachbildung dessen, den Mephisto bei der Vorstellung tragen würde. Irgendwie schien es passend, als Fürst des Bösen gekleidet zu sein.
Als die Sprengsätze detonierten, hatte ich kaum eine Sekunde Zeit, den spektakulären Effekt zu bewundern, mit dem sieben Tonnen Glas und Metall von der vergoldeten Decke stürzten, bevor eine zeitlich genau berechnete Unterbrechung der Gaszufuhr die Bühne in Dunkelheit tauchte. Die nun eintretende Panik war so groß, daß niemand sah, wie ich Christine durch die verlassenen Gänge in ihre Garderobe zerrte.
Sie gab bei unserer Flucht durch den Spiegel keinen Laut von sich. Sie schrie nicht und wehrte sich nicht. Sie war in jenen Zustand passiver Gleichgültigkeit verfallen, der sich unmittelbar vor der Hinrichtung über das Opfer senkt. Sie überließ sich meiner schweigenden Entschlossenheit mit hoffnungsloser Resignation.
Das Brautkleid war auf ihrem Bett ausgebreitet, und erst als ich ihr gesagt hatte, sie solle es anziehen, zeigte sie erste Anzeichen von entsetztem Protest.
»Erik . . . bitte . . . «
»Zieh es an! Ich
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