Kay Susan
nicht deiner Häßlichkeit wegen?«
»Wenn Sie Lilien zu mir in den Sarg legten«, sagte ich und rang mir dabei ein Lächeln ab, »könnte ich sie singen lassen.«
Er schob die Pistole in seinen Gürtel und wippte auf seinen Absätzen, vor Lachen brüllend.
»Gott steh mir bei, du Balg, du bist wirklich wahnsinnig. Du bist noch mein Tod, ich schwör es. Lilien willst du singen lassen? Und wie willst du das anstellen?«
Aus einem alten Buch in der Bibliothek meines Großvaters hatte ich die Kunst des Bauchredens gelernt und lange geübt. Jetzt wählte ich das Agnus Dei aus Bachs Messe in h-Moll und ließ es so klingen, als komme es aus den Blütenblättern einer wilden Narzisse neben Javerts Stiefel.
»Agnus dei . . . miserere nobis . . . «
Unbewegt sah ich zu, wie Javerts fettes Gesicht ungläubig zerfloß, als er sich bückte und die Blume zu seinen Füßen pflückte. Er hielt sie ans Ohr, und ich vernahm sein erstauntes Grunzen, als ich meine Stimme süß in seinem Kopf tönen ließ. Er hielt die Blüte an sein anderes Ohr, und abrupt wechselte meine Stimme die Richtung; er warf die Blume zu Boden und ging ein paar Schritte fort. Ich wandelte den Ton indessen so ab, daß es klang, als entferne sich meine Stimme.
Dann kam er zurück und starrte mich intensiv an. Er legte einen dicken, schmutzigen Finger an meinen Hals und riß die Augen auf, als er die schwache Vibration meiner Stimmbänder spürte.
»Wie ist das möglich?« murmelte er, mehr zu sich selbst als zu mir gewandt. »Ich habe in meinem Leben schon viele Bauchredner gesehen, aber noch nie einen mit so einer Stimme.« Roh packte er mich an der Schulter und schüttelte mich ärgerlich. »Ich sollte dich verprügeln, weil du mir dieses Geheimnis bisher vorenthalten hast, du kleiner Teufel! Wenn ich an all das Geld denke, das ich damit schon hätte verdienen können . . . « Abrupt ließ er mich los und trat zurück. »Nun gut, egal, heute abend wirst du singen. Ich werde einen Haufen Lilien besorgen, und wenn ich dafür einen Friedhof plündern muß.«
Plötzlich wurde ihm mein betontes Schweigen bewußt.
»Na?« fragte er unbehaglich. »Was soll dieser stumme, verstockte Blick? Hat die Katze deine Zunge geholt?«
Ich starrte ihn trotzig schweigend an, und sofort begann er sich aufzuplustern wie ein Tyrann, der den ersten Hauch einer Niederlage verspürt.
»Also gut, was geht in deinem verdrehten Kopf vor! Heraus damit!«
Ich zuckte die Achseln und wandte mich ab.
»Falls ich bereit wäre zu singen«, sagte ich ruhig, »so nur unter bestimmten Bedingungen.«
»Bedingungen!« Er packte mich am Hals und drückte seine riesigen Daumen auf meine Luftröhre. »Bedingungen? Ich könnte dir auf der Stelle die Kehle aufschlitzen.«
Ganz vorsichtig begann ich zu lächeln. Vermutlich wurde auch ihm die Absurdität seiner leeren Drohung sofort klar, denn noch während er sprach, ließ er mich los. Ich merkte, daß er heftig durch die Nase atmete und versuchte, seiner Wut Herr zu werden.
»Bedingungen«, wiederholte er, das Wort durch die zusammengebissenen Zähne pressend. »Und was sind das für verdammte Bedingungen? Sag schon, du unverschämter kleiner Knochensack, damit wir es hinter uns haben!«
Ich setzte mich ins Gras und starrte vollkommen gleichgültig über seine wachsende Nervosität zum Lagerplatz hinüber. Ich ließ ihn warten und schwitzen.
»Ich werde nicht ohne Maske singen, und ich singe nicht in einem Sarg«, sagte ich fest. »Wenn Sie mit mir das Geschäft ihres Lebens machen wollen, müssen Sie mir ein eigenes Zelt geben.«
»Ein Zelt?« wiederholte er erstaunt. Doch schnell erholte er sich von seiner Verblüffung und begann praktisch zu denken. »Unmöglich«, fuhr er fort, aber ohne Zorn, wie ich bemerkte. »Wie könnte ich mich darauf verlassen, daß du bleibst?«
Ich starrte zu Boden, um die Tränen zu verbergen, die plötzlich in meine Augen traten, als ich die öde Zukunft vor mir sah.
»Ich weiß keinen Ort, an den ich gehen könnte.« Meine Stimme hatte einen Beiklang von Müdigkeit und Resignation. »Geben Sie mir etwas Privatsphäre und Bequemlichkeit, und als Gegenleistung werde ich Ihnen ein Vermögen einbringen.«
Er starrte mich argwöhnisch an.
»Das sagst du. Nimm an, ich würde mich entschließen, dir zu vertrauen. Man muß aber auch auf das Publikum Rücksicht nehmen. Was sollen Gesang und Lilien, wenn die Leute dein Gesicht nicht sehen?«
»Nun gut«, räumte ich ein, »ich bin bereit, am Ende der Vorstellung die Maske
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