Kayankaya 4 - Kismet
die nach wie vor von Beleidigungen, Hinterhalten und Gemeinheiten für den anderen strotzten. Und weil wir das wußten oder ahnten, es aber nicht wahrhaben mochten, weil es tatsächlich viel angenehmer war, sich im Treppenhaus zu grüßen, anstatt jedesmal anzublaffen, hatten wir eine ganze Reihe von Haltungen, Ticks und Manövern gefunden, die es vermieden, daß sich unsere Blicke begegneten.
»… Da tragen wir alle nun schon seit Wochen kurze Ärmel! Und das im Mai!« sagte der Gemüsehändler, während er meine Arme beäugte, um dann über meine Schulter geradewegs zur Tür zu sehen und auszurufen: »Aber sehen Sie, dort hinten zieht ein Gewitter auf! Ein bißchen Regen wird uns guttun!«
Also wandte ich mich um und sah ebenfalls zur Tür hinaus, und schon hatten wir es geschafft: Wir standen Seite an Seite, und kaum etwas hätte uns während des folgenden kurzen Gesprächs dazu gebracht, den Blick von parkenden Autos und einem Haufen leerer Obstkisten abzuwenden. Bei Regen nahm er gerne durchnäßte Schuhe zum Anlaß, erst nach unten und dann irgendwohin zu gucken, im Spätsommer ließ er die um sein Obst summenden Wespen nicht aus den Augen, und morgens mußte er genau verfolgen, ob sich der Zucker in seinem Kaffee auch auflöste. Mir fiel meistens nur ein, mich am gesenkten Kopf zu kratzen, ansonsten machte ich mit, was er anleierte.
Nachdem auch ich mich kurz zum Wetter geäußert hatte, fragte ich, ob ihm gegen Morgen irgendwelche Geräusche aus meiner Wohnung aufgefallen wären.
»Tja, da haben Sie sich wohl eine lustige Nacht gemacht, was?« Er winkte ab. »Kein Problem. Ich war sowieso schon wach.«
»Wie kommen Sie darauf, ich hätte mir eine lustige Nacht gemacht?«
»Na ja …« Er hüstelte amüsiert. »Wenn man es nicht mehr schafft, den eigenen Schlüssel in das eigene Türschloß zu stecken, dann ging’s die Stunden davor meistens hoch her, nicht wahr? Aber ist ja klar. Ich meine, Sie müssen im Moment doch richtig aufleben. Ist doch Ihr Klima.«
»Hmhm. Hab ich die Tür irgendwann aufgekriegt?«
Einen Moment schien es fast so, als wollte er den Kopf drehen, um mich erstaunt anzusehen. Doch dann fragte er zu den Obstkisten hin: »Na, sind Sie vielleicht im Treppenhaus aufgewacht?«
»Ich bin bei Freunden aufgewacht. Und dort war ich auch bis eben.«
»Tatsächlich? Das ist aber merkwürdig. Ich bin mir ganz sicher, heute morgen gegen sechs jemanden an Ihrer Tür gehört zu haben.«
»Auch in der Wohnung?«
»Tja, jetzt wo Sie’s sagen… Stimmt, keine Schritte, und normalerweise…«
Natürlich brannte er darauf zu wissen, was das bedeutete, wagte aber nicht zu fragen. Seit den Nuttenbesuchen hielt er eine Menge von Privatsphäre.
»Na, dann werde ich mir das mal angucken«, beschloß ich, und bevor er etwas erwidern konnte, hatte ich mich Richtung Gemüseregal verabschiedet und war zur Tür hinaus.
Das Schloß sah ganz normal aus. Wer immer versucht hatte, in meine Wohnung einzudringen, er war ohne Gewalt vorgegangen. Ich steckte den Schlüssel rein. Zweimal abgeschlossen, wie immer. Ich schob die Tür auf und sah in den kleinen viereckigen Flur mit Garderobe und leeren Flaschen. Eine Weile blieb ich im Türrahmen stehen und horchte. Schließlich trat ich ein, ging durch alle Räume, zwei Zimmer, Küche, Bad, und erinnerte mich, das Fenster offengelassen zu haben, weil es aus dem Waschbeckenabfluß in der Küche nach Kloake stank. Würden Gangster, die sich vorgenommen hatten, in meine Wohnung zu kommen, ein paar Schlüssel ausprobieren, ob sie zufällig paßten, und wieder verschwinden?
Ich schloß die Tür, machte Kaffee und setzte mich mit einer Tasse ans Telefon. Als erstes versuchte ich Slibulsky zu erreichen. Zum einen, um mich nach seinem Befinden zu erkundigen, zum anderen, um zu erfahren, warum ich mir irgendwelche Bonbons angucken sollte. Aber in seinem Büro meldete sich nur ein Eisverkäufer, der meinte, Slibulsky sei unterwegs, um Pappbecher zu besorgen. Anschließend wählte ich die Nummer von Romarios Wohnung. Vielleicht hatte er eine Freundin oder Besuch aus Brasilien oder sonstwen vor uns verheimlicht, die oder der jetzt ahnungslos wartend aus dem Fenster auf die gegenüberliegende Brandmauer starrte und anfing, wütend zu werden. Oder gerade von der Polizei verhört wurde, kein Wort verstand und Hilfe brauchte. Oder genau verstand und um so mehr Hilfe brauchte. Aber niemand hob ab. Ich rauchte und überlegte, wen ich kannte, der Romario so nahegestanden
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