Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kaylin und das Geheimnis des Turms

Kaylin und das Geheimnis des Turms

Titel: Kaylin und das Geheimnis des Turms Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Sagara
Vom Netzwerk:
tatsächlich war. Hier lag eine Unwirklichkeit, die viel, viel stärker war als der Mangel an Zusammenhalt, dem sie sich in den Hohen Hallen gegenübergesehen hatte.
    Sie begrüßten einander höflich und hoben ihre Hände. Wie zum Ritual. Oder zum normalen Gruß in der Öffentlichkeit. Während sie ihnen dabei zusah, betrachtete sie ihre Kleidung. Sie trugen ausgerechnet eine Rüstung – Kettenhemden, etwas Flexibles und Glänzendes. Keine Helme, aber das war typisch für Barrani. Sie wollten weder ihre Gesichter verstecken noch ihr Sichtfeld beeinträchtigen.
    Allerdings trugen sie Umhänge, einer braun, der andere grün. Daran konnte sie die beiden auseinanderhalten. Während sie sie beobachtete, konnte sie noch andere Dinge an ihnen feststellen. Der Lord der Westmarsche war besorgt. Es war ein seltsamer Blauton in seinen Augen, der diese Sorge ausdrückte, umrandet von einem tiefen und dunklen Grün, und sie dachte – als sie ihn ansah –, dass in seinen Augen immer Grün stehen würde, wenn er seinen Bruder ansah.
    Der Lord der grünen Auen andererseits – seine Augen waren fast schwarz. Und Schwarz hatte sie noch nie in den Augen eines Barrani gesehen. Sie fragte sich, was es bedeutete.
    Und in dem Augenblick drehte er sich zu ihr um und starrte sie an.
    “Weißt du es nicht?”, fragte er. Es lag kein Zorn in der Frage, aber sie klang auch nicht neutral. Es lag Schmerz darin und eine verdrehte Sehnsucht.
    Sie schüttelte den Kopf. Stumm.
    Er verließ seinen Bruder. Sie sah, wie der Lord der Westmarsche zusammenzuckte, aber stehen blieb.
    Der Lord der grünen Auen hob eine Hand, aber er versuchte nicht, sie zu berühren. Sie konnte sogar sehen, dass er das Gegenteil versuchte: Er wollte seine Hand von ihrer natürlichen Bahn abbringen.
    “Ich verstehe, was ich jetzt bin”, sagte er zu ihr.
    Ich nicht.
Aber sie sprach die Worte nicht aus. Sie konnte nicht.
    Er deutete auf ihre Arme. Sie sah hinab. Sie waren nackt. Der Rest von ihr war es nicht, sie trug Barraniseide, die ihr von den Schultern, und nur den Schultern, fiel, als wäre sie dort verankert. Die Röcke waren weit genug, um die anderen Zeichen zu verdecken, aber auch sie waren da.
    Sie hob ihre Arme. Die Worte krochen über ihre Haut und nahmen auf ihrer Bahn Form an. Sie schüttelte den Kopf.
    “Ich war ehrgeizig”, sagte er.
    Sie nickte auf diesen simplen Fakt hin. Von einem Barrani war das, dachte Kaylin, so als würde man sagen: “Ich atme.”
    “Und ich war der Erstgeborene. Ich bin in den Turm gegangen.”
    Sie blickte ihm in die Augen. Sein Blick war schwarz, aber sie konnte in der Dunkelheit noch Spuren einer anderen Farbe erkennen. Sie empfand es als tröstlich.
    “Mein Bruder ist mit mir gegangen”, sprach er weiter.
    “In die Prüfung?”
    “Nein. Das hätten die Hohen Hallen nicht gestattet und ich auch nicht. Aber es war sein Wunsch.”
    “Welches Wort?”, flüsterte sie leise.
    “Weißt du es nicht? Kannst du es dir nicht denken?”
    Sie schüttelte den Kopf.
    Und er malte die Rune in die Luft zwischen ihnen. Sein Finger leuchtete und zog eine Spur aus blauem Licht hinter sich her.
    Sie sah es deutlich und trat einen Schritt vor. Er trat einen Schritt zurück, damit die kurze Entfernung zwischen ihnen bestehen blieb. “Das war … es war … das Gleiche. Wie meine.”
    “Ja.”
    “Aber …” Anscheinend war die Sprache zu ihr zurückgekehrt.
    “Ja. Das Gleiche.”
    “Hast du gesehen, was ich gesehen habe?”
    “Nein, Kaylin. Du wirst nie den Platz des Lords der Hohen Hallen einnehmen.” Er verzog das Gesicht. “Und ich genauso wenig. Das ist die Wahrheit, sosehr der Lord der Westmarsche sie auch leugnet.” Er hielt inne. Dann flüsterte er ein weiteres Wort.
Lirienne.
    Der Name seines Bruders.
    Sie wusste nicht, wie sie so tun sollte, als hätte sie es nicht gehört. Und er schien auch nicht überrascht davon zu sein, dass sie es konnte.
    “Weißt du, welche Rune er gesehen hat?”, fragte der Lord der grünen Auen sie und drehte sich dann um, um seinen Bruder anzusehen, der isoliert von ihnen stand.
    “Nein.”
    Er hob wieder eine Hand, und wieder malte er ein Symbol in die Luft. Dieses war ihr allerdings nicht bekannt. Sie dachte angestrengt nach.
    “Es bedeutet ‘Pflicht’“, sagte der Lord der grünen Auen leise zu ihr.
    Sie nickte. Das ergab einen Sinn. Wahrscheinlich, weil sie träumte. In Träumen hatte alles seine ganz eigene Logik.
    “Hat er es dir gesagt?”, fragte sie sanft.
    “Das hat

Weitere Kostenlose Bücher