Kaylin und das Geheimnis des Turms
gewollt unten ankommen.
Und Kaylin hatte, als sie sich die Treppe ansah, das starke Gefühl, dass diesmal ein Sprung keine brauchbare Alternative war, es sei denn, man wollte sich umbringen. Sie betrachtete die Wand, an der die Treppe entlangführte. Sie sah aus wie aus dem Fels gebrochen, nicht gearbeitet, als hätte man sie im Ganzen von einer Klippe genommen. Oder als wäre sie Teil von einer.
Dort befand sich auch eine Rune, wie sie es erwartet hatte. Tatsächlich sogar mehrere. Keine von ihnen war wie die, die sie als ihre betrachtete. Sie sah wieder zu Andellen. Bemerkte seine ausdruckslose Miene.
“Das ist keine Prüfung”, sagte sie leise zu ihm.
“Doch, das ist es, Kaylin. Es ist allerdings nicht die Prüfung, die einen zum Lord macht.”
“Was steht da?”
Er schüttelte den Kopf. “Ich erkenne nur eins der dreizehn Zeichen.”
“Und das heißt?”
“Tod.”
“Toll.” Sie hob einen Arm und schob ihren Ärmel hinauf bis zum Ellbogen. Es ging ganz einfach. “Das ist … dieses hier, richtig?”
Andellen betrachtete ihren Arm. “Nein.”
Sie sackte in sich zusammen. “Nein warum?”
“Die Form ist die Gleiche. Der innere Bereich ist etwas anders. Hier”, zeigte er ihr, “und hier.” Er hielt inne und schenkte ihr dann ein schwaches Lächeln. “Ich kann die Sprache der Alten nicht lesen.”
“Aber erkannt hast du …”
“Ja. Aber das hier”, sagte er, die Hand über ihrem Arm, ohne die Haut zu berühren, “ist noch älter. Die Drachen könnten dir sagen, was einiges davon bedeutet – aber ich bezweifle ernsthaft, dass sie dir erlauben, deinen Arm zu behalten.”
Das hatte sie schon gehört. Und wünschte sich, der Drache, der es ihr gesagt hatte – Lord Tiamaris –, wäre jetzt bei ihr. Mit dem Falken auf seiner Brust.
War er aber nicht. “Wirst du ein zweites Mal riskieren, was du schon einmal riskiert hast?”
Lord Andellen nickte.
“Samaran?”
“Es ist nicht meine Prüfung”, setzte er an. Dann richtete er sich auf. “Und Eure auch nicht. Die Hohen Hallen werden entscheiden. Wenn wir mit Euch durch den Bogen treten
können
, werden wir es tun.”
“Auch gut.” Und sie drehte sich um und trat durch den Torbogen, während der Schlussstein über ihr flackerte.
Ein Unterschied, der ihr sofort auffiel, war, dass der Torbogen nicht hinter ihren Rücken verschwand. Kaylin hielt das für ein Zeichen, aber sie war sich nicht sicher, ob gut oder schlecht. “Das Licht hier drinnen ist unter aller Sau”, sagte sie zu niemandem Bestimmten.
Severn blickte zu Andellen, der eine Augenbraue hob. “Licht bereitet den Barrani nur selten Schwierigkeiten”, gab er schließlich zu, nachdem Severn seinen Blick nicht abgewendet hatte. Der Barranilord hob eine Hand, und helle Strahlen begannen sich daraus zu ergießen wie ein Nebel.
Kaylin fluchte.
“Das ist keine Magie”, beruhigte Andellen sie, “es ist Teil der Hohen Hallen.”
“Ich kann das nicht.”
“In einem Jahrhundert fällt es dir ganz leicht.”
Sie wollte ihn treten, aber sie verkniff es sich. Stattdessen begann sie, durch die Helligkeit sicherer geworden, ihren Weg die Treppe hinab. Die Dunkelheit, die unter ihren Füßen lauerte, wurde vom Licht gefressen, aber nur langsam. Ihr Fortschreiten gestaltete sich schwierig. Sie zog allerdings nicht die Schuhe aus. Sie wollte die Steinstufen selbst nicht berühren, die auf eine Art zu leuchten schienen, die an Licht erinnerte, ohne es auszustrahlen.
Severn wickelte seine Kette ab.
Andellen hatte, als sie zu ihm aufsah, sein Schwert bereits gezogen, genau wie Samaran. Sie hatte, wie es sich für menschliche Adlige gehörte, gar nicht erst eine Waffe dabei und blickte zu Severn, der auf seine Dolchscheiden zeigte. Er musste nervös sein, wenn er seine Kette nicht loslassen wollte, um sie selber zu ziehen.
Sie nahm sie an sich und ging weiter, immer hoffend, nicht zu stolpern und sich selbst zu erstechen. Alles in allem gab es aber wahrscheinlich Schlimmeres.
Wie zum Beispiel das knurrende Geräusch aus der Ferne.
Der Ausdruck “Ihr standen die Haare zu Berge” wurde Kaylin nicht gerecht. Die Haut in ihrem Nacken schien sich zu wellen, und nicht auf die angenehme Art. Als wäre dort Leontinerfell.
“Das sind keine Wilden”, sagte Severn. Ein Blick in sein Gesicht reichte aus, um zu merken, dass er das nicht tröstend meinte.
“Severn?” Sie ging noch zwei Stufen, ehe sie sich umdrehte und mit dem Rücken gegen die Wand lehnte. “Ich habe dir von
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