Kaylin und das Geheimnis des Turms
wirst, wenn du versuchst, etwas daran zu ändern. Du wirst natürlich dort erwartet, genau wie Lord Severn.”
“Andellen …”
“Ich verstehe deine Dringlichkeit, Kaylin. Es liegt nicht in unserer Art, übereilt oder direkt zu sprechen, aber glaube mir, ich versuche es.” Sein Stirnrunzeln war nachdenklich. Und verdammt langsam. “Der Lord der Westmarsche
wird
anwesend sein. Wäre ich Lord des Barranihofes, ich würde meinen ältesten Sohn verdammen, wenn er dem Ritus nicht beiwohnt, und zwar öffentlich.”
“Er wird seinem zweiten Sohn die Gabe anbieten.”
“Aber der Lord der Westmarsche wird ablehnen.”
“Wird er das?”
“Ja!”
“Kaylin, du verstehst vieles von dem Hof der Barrani, das selbst mir bisher unbekannt war. Du hast uns ins Herz der Dunkelheit geführt”, fuhr er fort. “Nicht einmal ich habe es bisher gesehen, der jahrhundertelang hier gelebt hat. Aber dieses Mal ist deine Überzeugung fehl am Platze. Ich glaube, dass der Lord der Westmarsche durchaus
vorhat
, abzulehnen, was sein Vater ihm zweifellos anbieten wird. Aber sein Vater
wird
es ihm anbieten. Die Tochter wird die Gabe der Mutter annehmen. Doch die Gabe der Mutter ist an ihre Quelle gebunden, nicht an die Hohen Hallen. Und wenn der Vater das Angebot macht, werden die Hohen Hallen – nur einen Augenblick lang – keinen Herrscher haben. Keinen Hüter.”
Sie erstarrte. “Aber die Dunkelheit …”
“Ja. Sie wird sich erheben. Schon jetzt hält sie kaum noch etwas.”
“Du glaubst, sie werden ‘Feiges Huhn’ spielen.”
Er hob eine Augenbraue. “Ich weiß nicht, was Geflügel mit
Leoswuld
zu tun haben soll. Du wirst mich sicher bald erleuchten.”
“Es ist ein Spiel. Ein blödes Spiel. Man kann es mit Messern spielen oder allem Möglichen. Am Rand von Dächern auch. Oder bei den Wagen auf dem Markt. Es bedeutet – einfach nur –, wer zuerst blinzelt. Wer zuerst aufgibt, hat verloren.”
“Ah. Und du meinst, der oberste Lord wird uns alle in Gefahr bringen, um seinen Sohn zu zwingen?”
“Nein, das denkst du. Der Lord des Barranihofes kann sich nicht sicher sein, dass der Lord der Westmarsche seine Gabe annimmt. Doch wenn er es nicht tut …”
“Ja. Dann werden wir fast mit Sicherheit untergehen.”
“Kann jemand anders annehmen, was er bietet?”
“Jeder kann es versuchen”, antwortete er. “Aber, Kaylin, du musst verstehen, dass Erfolg nicht garantiert werden kann. Auch wenn unter diesen Umständen ein Krieg weniger wahrscheinlich ist. Selbst die Barrani schätzen ihr Leben. Vielleicht sogar mehr, so viel, wie sie zu verlieren haben. Der Lord des Barranihofes ist gerissen. Er ist auch verzweifelt.” Er sah Kaylin an. “Bist du sicher, dass der Lord der Westmarsche ablehnen wird?”
“Du weißt, ich trage seinen …”, sagte sie stattdessen.
Er hob seine Hand. “Ein einfaches Ja reicht aus.”
“Dann ja, verdammt.” Sie sah zur Tür. “Wir kommen hier nicht raus?”
“Nicht, ohne die Wachen umzubringen”, antwortete er. “Und das bringt dir wahrscheinlich nicht die Freiheit, die du dir erhoffst.”
“Was dann?”
“Zeit”, sagte er zu ihr. “Wie lange kannst du warten?”
“
Ich kann nicht warten. Wir haben keine Zeit.”
In seiner Miene lag etwas, das viel zu nahe an Mitleid war. “Du wirst warten”, sagte er leise zu ihr, “weil du nur auf dem Weg zum Ritual eine Chance auf Erfolg haben kannst. Zu diesem Zeitpunkt sind alle Barranilords gezwungen, ihr Quartier zu verlassen, und damit müssen sie auch alle Verschwörungen hinter sich lassen. Sie werden auf Geheiß des Lords des Barranihofes teilnehmen.”
Kaylin legte die Stirn in Falten. “Der Lord des Barranihofes hat mir erlaubt, mich in den Hallen frei zu bewegen.”
“Ja. Und könntest du ihn erreichen, würde er diesen Erlass sicher bekräftigen. Willkommen”, schloss er mit dem Anflug eines grausamen Lächelns, “bei Hofe.”
Sie fluchte. Lange.
Zwei Stunden später gab sie auf und zog sich in ihr Bett zurück. Es war wie eine besetzte Insel im Meer der Verstimmung, und wenn ihre Laune auch kindisch sein mochte, es war ihr verdammt egal. Es war ja nicht so, als könnte es irgendwer sehen.
Schließlich überkam sie doch der Schlaf. Sie brauchte ihn dringend.
Sie hörte Andellens Stimme, gedämpft, um nicht weit getragen zu werden. Genau wie die von Severn. Sie war genervt, aber nicht genug, um aufzustehen und sie anzuschreien. Ihre Stimme war dafür etwas zu heiser, und außerdem hatte sie es schon
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