Kaylin und das Geheimnis des Turms
nur begleitet vom Geräusch ihrer eigenen Schritte und der fernen Glocken, die die Stunde läuteten. Die Töne klangen für Kaylin hohl und voller Trauer. Sie bezeichneten das Vergehen von mehr als nur der Zeit. Ihr linker Arm tat weh. “Ich könnte nie Lord von diesem Hof sein”, sagte sie leise. “Hätte man mich der gleichen Prüfung unterzogen wie den Lord der grünen Auen, hätte ich vollkommen versagt. Ich kann ihn nicht verurteilen. Seine Mutter auch nicht. Sein Vater hat die gleiche Prüfung bestanden”, sprach sie weiter, “also kann er es.”
Dann drehte sie sich um und nahm Severns Arm in ihre beiden Hände. “Und
du
kannst es”, sagte sie leise. “Du kannst den Lord der Westmarsche verurteilen.”
Severn schüttelte den Kopf. “Es ist nicht die gleiche Prüfung”, sagte er fast sanft zu ihr. “Wenn man mich vor die Wahl gestellt hätte,
dich
umzubringen oder die Stadt brennen zu sehen – das wäre das Gleiche gewesen. Und ich hätte versagt. Lass los, Kaylin. Lass los, Elianne.” Er hielt kurz inne. “Wenn du im Unterricht aufgepasst hättest – und ich nehme einfach an, du hast Philosophie nie belegt –, hättest du ein altes Sprichwort schon gehört. Es ist wichtig, wenn man in den Gesetzeshallen arbeitet … ein Lebensmotto.”
“Was?”
“Man beurteilt uns nach unseren Erfolgen”, sagte er und strich sich die Haare aus den Augen. “Das erwarten wir alle. Aber man beurteilt uns auch nach unserem Versagen, ob edel oder nicht. Erfolg und Versagen sind zwei Schneiden der gleichen Klinge, zwei Seiten der gleichen Münze. Die eine zu fürchten heißt, der anderen keine Möglichkeit geben.” Und er küsste sie auf die Stirn.
Sie schloss ihre Augen.
“Ich bin bereit, hier zu versagen”, sagte er zu ihr, “und auch du musst dazu bereit sein. Es gibt nicht die eine Straße zum Erfolg.”
“Danke”, sagte sie. Sie löste sich langsam von ihm und drückte ihre Schultern durch. “Ich erinnere mich an ein anderes Sprichwort.”
“Oh?”
“Ein erfolgreicher Mann – oder eine Frau – hat unzählige Freunde. Ein Versager? Fast keine.” Sie griff nach seiner Hand und hielt sie fest.
Sein Lächeln war schief. “In unserem Fall wahrscheinlich, weil kaum noch Leute übrig sein werden.” Er machte sich wieder auf den Weg und hielt ihre Hand dabei fest.
Der Lord der Westmarsche wartete komischerweise schon auf sie, ehe sie den Flügel der Hohen Hallen, den er für seine persönlichen Bedürfnisse beanspruchte, erreicht hatten. Er stieß in einem Atrium zu ihnen, wo er hinter einem dichten Busch aus merkwürdig geformten Blättern hervorkam. Die Blätter waren grün mit violetten Herzen und so lang wie Kaylins Arm. Seine Augen waren blau.
Sie entbot ihm eine höfische Verbeugung. Sie war nicht so elegant, wie es sich für eine barranische Verbeugung gehörte, aber das wurde auch nicht von ihr verlangt – und sie wollte ihm geben, was sie konnte. Nicht mehr, aber bestimmt auch nicht weniger.
Er nahm die Verbeugung mit einem ernsten Nicken entgegen. “
Kyuthe”
, sagte er leise, “ich habe bereits auf dich gewartet.” Er nickte danach Severn zu, wie um seine Anwesenheit zu bestätigen.
Darauf wette ich, dachte sie. “Wir sind in den Turm zurückgekehrt”, sagte sie stattdessen.
“Ich weiß. Ich habe kurz mit Lord Evarrim gesprochen.” In den Worten lag eine Warnung.
“Lord Evarrim war … hilfsbereit. Wir hatten uns fast verlaufen”, sagte sie noch dazu.
Sein Lächeln war eine merkwürdige Sache. Ihm fehlte jede Belustigung, aber nicht die Wärme. “Sprich nicht wie ein Barrani”, wies er sie sanft an. “Es passt nicht zu dir.”
Sie zuckte mit den Schultern. “Ich mag das Kleid.”
“Es ist nur Kleidung, mehr nicht – es definiert dich nicht.”
“Nein. Aber es ist tausendmal bequemer als das andere. Und das sollte mich definieren.” Sie atmete tief durch und wechselte ins Elantranische. “Wir haben mit deinem Vater gesprochen”, sagte sie. Die offenen Worte fühlten sich fast fremd in ihrem Mund an, weil es letztlich immer Dinge gab, die sie einfach nicht besprechen
wollte
.
Ein kurzer Blitz, als würde sich ihr etwas offenbaren, durchzuckte sie. Sie fragte sich, ob man, wenn man mehrere Jahrhunderte lebte, so viel anstaute, über das man nicht sprechen wollte, dass man natürlicherweise nur noch Barrani wählte, um nicht zu sprechen.
Er nickte. Dann wendete er seine Aufmerksamkeit den Blättern zu, die dick waren und sich fast nicht umbiegen
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