Kaylin und das Geheimnis des Turms
enttäuscht, als sie die gleiche schmale, abgetretene Treppe hinunter
gingen
und auf die breite Straße hinaustraten. Sie hatte etwas weniger Schlichtes erwartet.
Verdammt, sie hatte ihn schon durch einen Spiegel gehen und verschwinden sehen. Andererseits, ihr eigener Spiegel würde ihn halbieren, also war es wahrscheinlich so besser.
Ihre Tasche hing über ihrer Schulter, und ihre Uniform hatte sich darunter in ungemütlichen Falten eingeklemmt. Sie fühlte sich wieder wie ein Straßenmädchen. Besonders im Vergleich zu ihrer Begleitung. Sie nahm sich vor, diesen Vergleich nicht noch einmal anzustellen.
Er führte sie, und sie folgte. Sie hätte ja selbst geführt, aber seine Schritte waren die längeren, und seine Würde – barranische Würde – erlaubte es ihm nicht, hinter etwas so Langsamem wie Kaylin herzugehen. Sie erlaubte ihm allerdings sehr wohl, sich hinter seiner ausgesuchten Wache zu verstecken, wenn er sich entschloss, die Straßen seiner Kolonie zu betreten.
Aber er hatte keine Wache mitgebracht.
Als sie die Brücke erreichten, blieb Kaylin stehen. Auch der Lord stoppte nun an der sanften Erhebung der Brücke. Er drehte sich zu ihr um. Sah ihr in die Augen.
“Ich versichere dir”, sagte er in einem Tonfall, der Kaylin ganz und gar nicht ein Gefühl von Sicherheit vermittelte, “du bist keine Gefangene. Das hier ist keine Entführung. Ich habe nicht vor, mich bei deinen Pflichten in den Hallen … einzumischen. Ich möchte nur sichergehen, dass auch niemand anders dazu die Gelegenheit bekommt.”
“Ich muss Bescheid sagen …”
Er verzog das Gesicht. “Falls es dich beruhigt, ich habe deinen Spiegel verändert. Wenn jemand ihn anruft, wird seine Nachricht in dein Zimmer in der Burg weitergeleitet.”
“Wo du dir dann alles anhören kannst, was besprochen wird.”
Er hob eine Augenbraue.
“Dem Falkenlord wird das nicht gerade gefallen.”
“Der Falkenlord ist nicht dein Lord. Er bestimmt nur über dein Leben, wenn du unter seinem Befehl arbeitest. Was du in deiner … Freizeit tust, geht ihn nichts an. Komm, Kaylin. Es wird bald dunkel, und auch wenn ich keine Angst vor den Wilden habe, glaube ich, es ist kaum zu deinem Besten, wenn wir uns ihnen entgegenstellten.”
Das reichte als Warnung aus. Sie ging über die Brücke, die für sie der Trennungspunkt zwischen dem neuen Leben, das sie hinter sich ließ, und ihrem alten Leben, das in den Straßen und Gassen von Nightshade vor ihr lag, war.
Es war nicht die einzige Kolonie, die sie kannte, nicht einmal die einzige, in der sie zu Hause gewesen war. Aber es war die Kolonie, in der sie fast ihr ganzes Leben verbracht hatte. Die andere nannte sie nicht beim Namen, und sie dachte auch nicht darüber nach.
“Warum will der Kastenlord der Barrani …”
Lord Nightshade hob eine Hand. “Jetzt ist nicht die Zeit für diese Diskussion.” Sein Lächeln war schmal und kühl. “Wenn wir Glück haben, wird diese Zeit auch nie kommen. Wenn nicht, wirst du deine Antworten bekommen. Der oberste Lord der Barrani ist ein subtiler Herrscher, und er regiert bereits seit Jahrhunderten. Natürlich hat man seine Regentschaft angefochten.”
Sie fragte nicht, was mit den Rebellen geschehen war. Sie nahm an, dass sie tot waren. Aber niemand hatte sich je beim Kaiser oder den Gesetzeshallen darüber beschwert, und Untersuchungen waren – soweit sie wusste – nie eingeleitet worden. Andererseits, wenn es Untersuchungen gab, hätte sie es wahrscheinlich nicht mitbekommen. Barrani waren, was ihre kriminelle Aktivität anging, nicht so interessant wie die anderen sterblichen Rassen. Man hatte Kaylin vielleicht gezwungen, ihre Sprache zu lernen, aber sie hatte sich nie viele Gedanken um ihre Geschichte gemacht, selbst wenn diese mit den Gesetzeshallen zusammenhing.
Barrani waren unangenehm kalt, aber sie blieben unter sich. Obwohl sie
Macht
zu schätzen wussten, waren sie doch eine der wenigen Rassen, die Kaylin einfielen, die diese Macht nicht mit
Geld
gleichsetzten.
Geld machte die Menschen dumm.
Genau wie Hunger. Sie hatte noch nie von einem verhungernden Barrani gehört.
“Severn wird das nicht gefallen”, sagte sie, ohne nachzudenken.
“Nein. Aber ich versichere dir, Kaylin, ihm wird noch weniger gefallen, was passiert, wenn du dich mit den Barranilords einlässt. Es hat ihm auch nicht gefallen”, fügte er hinzu, ohne dass sich seine Miene veränderte, “dass du allein in einer schutzlosen Hütte wohnst, während der Hof
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