Kaylin und das Geheimnis des Turms
Magen gab fast das Mittagessen wieder frei. Sie hatte keine Zeit zum Abendessen gehabt, was auch gut war, denn dann hätte es kein “fast” gegeben.
Sie stand nicht in der durchaus opulenten, aber dennoch nach Kaylins Maßstäben “normal” eingerichteten Vorhalle, sondern in einem Zimmer. Einem Zimmer, das keine Fenster hatte und doch von einer enormen Menge Licht beleuchtet wurde.
Der Boden war kalt und hart, aber er war schön, ein rauchiger Marmor, durchzogen von blauen und grünen Adern und einem Hauch von etwas Goldenem. Er war mit Fliesen ausgelegt, die wohl konzentrische Kreise darstellen sollten, und in ihrer Mitte stand Kaylin, mit dem Sack über der Schulter und in einer Uniform, deren Saum nicht gerade saß. Mit anderen Worten, vollkommen unpassend.
Im Gegensatz zu Lord Nightshade.
Er deutete auf etwas. Sie sah auf, weil seine Hand an der Hüfte anfing und erst über seinem Kopf wieder anhielt und ihren Blick auf sich zog. Sie konnte sich nicht helfen. Jahre auf Streife neben Teela und Tain hatten sie überhaupt nicht auf Lord Nightshade vorbereitet. Er war fast im mythischen Sinne Barrani, und die beiden … waren
echt
.
Er war schön, auf die gleiche kalte Art, wie die Böden schön waren.
Die Decke über ihrem Kopf war gewölbt, wie eine sanfte Kuppel. Sie war von etwas umrandet, das ebenfalls wie Marmor aussah, und in die Oberfläche waren Runen eingraviert. Sie erkannte keine davon.
Sie wollte es auch nicht.
“Die Wörter – diese Runen … waren die … schon da … als du die Burg übernommen hast?”
“Ja”, sagte er und bedachte sie mit einem kurzen Blick. Seine Augen fuhren an den Runen entlang, und das Licht wellte sich in ihnen, als würde es von der Oberfläche eines kleinen Teiches im Sonnenlicht reflektiert. “Aber ich glaube, sie stellen keine Gefahr für dich dar. Kannst du sie lesen?”
Das war höflich, wie es oft höflich war, Fragen zu stellen, auf die man eigentlich die Antwort nicht kennen durfte. Sie misstraute mächtigen Männern, besonders wenn sie höflich waren. “Nein.”
“Ah. Wie schade. Ich glaube, in den Runen über uns befinden sich Worte, die du rufen kannst, falls es zum Schlimmsten kommen sollte. Sie können dir Schutz bieten.”
Sie erwiderte nichts.
“Ich habe mir die Freiheit erlaubt, dir einen der äußeren Räume zu geben”, fuhr er fort. “Du wirst die Langen Hallen nicht betreten müssen. Wenn ich mich richtig erinnere, bereitet dir das ein gewisses Unbehagen.”
“Es liegt nicht an der Halle”, sagte sie, ehe sie sich davon abhalten konnte. “Es liegt an den Barrani. An denen, die sich nicht bewegen und die sich für Blut zu interessieren scheinen.”
“Dennoch.” Er streckte seine Hand aus. An der weiter entfernten Wölbung – Richtungen gab es in diesem Raum nicht, weil man sie nirgendwo festmachen konnte – gab es ein großes, rundes Bett. Sogar mit Kissen. Es war makellos und mit Seidenstoffen bezogen, die wahrscheinlich mehr kosteten als zwei ihrer Jahresgehälter. Es war ätzend. Andererseits gab es keinen Himmel, und der schien bei Leuten, die zu viel Geld hatten, eigentlich Standardausstattung zu sein.
“Ich nehme an, du hast keine Karte von der Burg?”
“Eine, die sich nicht verändert?”
“Ich nehme das als Nein.”
Er lächelte. “Es gibt einen Schrank für deine … Besitztümer. Außerdem …”
“Ich brauche nichts sonst.” Sie erinnerte sich deutlich an ihren ersten Besuch. Sie hatte ihre Uniform verloren und war in einem wirklich unpraktischen Kleid aufgewacht. Einem sehr schönen, attraktiven, unpraktischen Kleid.
“Solltest du mit mir zu Abend essen – was ich hoffe –, brauchst du etwas weniger … politische Kleidung. Dafür habe ich gesorgt”, ergänzte er, seine Stimme um einige Grad kälter.
Sie erinnerte sich daran, dass es keine gute Idee war, ihn zu verärgern. Es war ja nicht so, als wäre sie nicht bereit dazu, aber sie wollte sich ihre Kämpfe selber aussuchen.
Er ging hinüber zur Wand und machte eine Handbewegung. Steine öffneten sich, und ein Teil der Wand warf das Licht gleichmäßig zurück. Perfekt. “Das”, sagte er ihr leise, “ist der Spiegel. Du kannst ihn benutzen, wenn das dein Wunsch ist.”
“Aber du wirst alles mithören.”
“Das werde ich.”
“Und wenn mich jemand erreichen will?”
“Sie werden an diesen Spiegel … weitergeleitet. Es steht dir frei, die Burg zu erkunden. Ich schlage allerdings vor, dass du dabei eine Wache
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