Kaylin und das Geheimnis des Turms
mitnimmst.”
“Welche?”
“Eine der beiden”, antwortete er, “die vor deiner Tür stehen.” Und er ging darauf zu. “Ich habe mich heute Abend um vieles zu kümmern. Wir werden uns morgen unterhalten.”
“Ich muss arbeiten …”
“Du bist hier keine Gefangene, Kaylin. Du bist nicht länger ein Kind. Du kennst den Weg in die obere Stadt.”
Der Spiegel ließ nicht auf sich warten.
Sie schlief schon fast – sie hatte Probleme damit, in großen, widerlich bequemen Betten einzuschlafen –, als er losging. Einen Augenblick lang war sie verwirrt. Sie war bereits aus dem Bett gesprungen und auf dem Steinboden zur falschen Wand gestolpert, als sie sich erinnerte, dass sie nicht zu Hause war. Sie berichtigte sich, als ihr zunehmend wacheres Bewusstsein ihre Instinkte ablöste.
Sie berührte den Spiegel, löste die Verschlüsselung, und ein Bild begann sich aus seiner Tiefe zu formen. Ein bekanntes Gesicht und ein schrecklicher, vertrauter Blick.
“Marya?”
“Kaylin, den Göttern sei Dank!”
Marya war eine Hebamme. Und das sagte auch schon alles.
Kaylin griff nach ihrem Bündel. “Wo?”, fragte sie nur.
“Stevenson Street. Worleys altes Haus.”
“Wie viel Zeit habe ich?”
Es folgte eine kurze, angespannte Stille. Stumme Antworten waren immer die schlimmsten. Wäre sie zu Hause gewesen, wäre es ein Sprint von fünf Minuten oder im Laufschritt fünfzehn Minuten gewesen. Aber so nah dran war sie nicht.
“Marya – ich bin nicht zu Hause.”
“Habe ich gemerkt. Der Spiegel hatte Schwierigkeiten.”
Kaylin verfluchte Spiegel. Und Barrani. Und Zeit.
“Ich komme”, sagte sie leise und zog sich ihre Stiefel zu ihrem Nachthemd an. “Ich bin da, so schnell ich kann. Sag ihr, sie soll … soll aufhören zu pressen. Soll mit allem aufhören. Habt ihr Sorgwurz?”
Maryas Nicken war knapp. “Wir haben alles getan, was getan werden konnte. Das Baby ist nicht …”
Kaylin hob eine Hand und ließ das Bild zerspringen. Ihre Art zu sagen, dass sie unterwegs war.
Schnell und unordentlich zog sie sich weiter an. Sie sah wie eine wandelnde Knitterfalte aus. Ihre Haare schob sie aus dem Gesicht und steckte einen Stab durch den Knoten. Die Frisur würde kein echtes Rennen aushalten, aber es musste reichen. Sie blieb für einen Augenblick stehen, als ein Leuchten an ihrem Handgelenk vom Spiegel eingefangen wurde.
Dort saß, um ihre Gabe gefangen zu halten, prächtig und antik, die Armschiene, die Geschenk und Fluch zugleich war. Ihre Oberfläche war kalt und abweisend. Sie konnte Marcus bereits hören. Sie hatte ihre Befehle: Das Ding durfte nicht abgenommen werden.
Und sie hatte ihre Gebote. Sie konnte nicht die Schiene tragen und tun, was … was wahrscheinlich getan werden
musste
. Mit einer Grimasse berührte sie die Edelsteine in der Reihenfolge, die ihr so vertraut war, dass Kaylin sie nicht bewusst hätte wiedergeben können. Ein lautes Klicken, und das Scharnier öffnete sich. Sie ließ die Schiene zu Boden fallen.
Sie würde ihren Weg zurück zu ihrem Hüter finden, früher oder später – im Augenblick war der Hüter nicht Kaylin selber. Diesen Gedanken gönnte sie sich noch, ehe sie zur Tür rannte. Der nächste Gedanke galt den Wachen davor.
Sie stolperte fast über die Männer, die ihr jetzt den Weg versperrten.
Sie waren beide schön, beide perfekt und beide vollkommen ungerührt. Sie fauchte sie mit einer sehr unhöflichen leontinischen Redewendung an.
Sie verstanden es nicht. Könnte sein, dass sie es nicht
konnten
, auch wenn Kaylin darauf kein Geld gesetzt hätte. “Ich habe für so was keine
Zeit
!”
Aber die hatte sie. Das Baby hatte sie nicht. Die Mutter hatte sie nicht.
Die Wachen wechselten untereinander einen Blick. Sie legte eine Hand an ihre Wange und zog sie überrascht zurück. Ihr Zeichen war
heiß
. Sie hatte es im Spiegel nicht einmal gesehen.
“Wir sind nicht befugt, dich allein ausgehen zu lassen”, sagte einer der zwei Barrani. Sie betrachtete ihn misstrauisch.
“Ich muss gehen. Jetzt. Ihr habt eure Pflichten”, fügte sie hinzu, “und ich habe meine. Aber ich werde euch
niemals
vergeben, wenn ihr mich zwingt, hierzubleiben, und ich werde euch
niemals
vergeben, wenn wegen eurer Verzögerungen Schaden entsteht.”
Der Blick des Mannes veränderte sich nicht. Aber er zog sein Schwert und nickte seinem Partner zu. “Ich werde dich begleiten”, sagte er. “Wohin gehst du?”
“In die obere Stadt”, antwortete sie, während sie sich an ihm
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