Kaylin und das Geheimnis des Turms
sie. Ihre Augen waren dunkel und ihr Gesicht die Art von blass, die von mehreren Tagen ohne Schlaf erzählte. “Kaylin! Sie ist in der …” Ihre dunklen Augen weiteten sich, als sie sah, was Kaylin ins Haus folgte.
“Marya”, sagte Kaylin, halb schreiend, als sie nach den Händen der Hebamme griff, ehe diese sich den nächsten Kerzenleuchter greifen konnten, “er gehört zu mir. Ich habe keine Zeit, es dir zu erklären. Er
wird nichts anfassen
. Er will nichts Böses.” Sie konnte sich nicht dazu bringen, ein “Vertrau ihm” anzufügen.
Ehe Marya antworten konnte, überwand ein gedämpfter Schrei den Weg durch das Entbindungszimmer und die geschlossene Tür. Eine jüngere Frau, die sich mit den Fingern am Türrahmen festklammerte, erschien, als die Tür aufschwang und gegen die Wand krachte. “Marya – sie hat angefangen zu bluten …”
“Kaylin ist da”, sagte Marya, mit leiser, aber eindringlicher Stimme. “Kaylin ist jetzt da.”
Und Kaylin schob sich an dem armen Mädchen vorbei ins Schlafzimmer. “Holt Wasser!”, rief sie auf dem Weg zum Bett. “Trinkbares Wasser!”
Aber Marya war bereits dabei, geschäftig umherzueilen. Marya hatte schon mit Kaylin gearbeitet, sie wusste, was gebraucht wurde, und wann.
Kaylin nahm die Hand der Frau, deren Augen bereits zeigten, dass sie langsam in einen Schockzustand abglitt. Sie legte ihre freie Hand auf die ausgedehnte, harte Rundung des Bauches der Schwangeren und zuckte zusammen, als der Körper ihr seine Geschichte erzählte.
Spät. Sie kam spät. Sie konnte den Riss spüren.
Sie blickte auf und bemerkte den Blick eines jungen Mannes, den sie nicht erkannte. Er war weiß im Gesicht, beinahe grün. “Raus”, sagte sie zu ihm. Er schüttelte stumm seinen Kopf, rebellisch geworden durch seine Angst.
“Marya …”
“Gerrold, komm mit”, sagte die Hebamme hinter Kaylins Rücken. “Sofort. Deine Frau muss jetzt allein sein.”
“Aber sie …”
“
Jetzt
.” Der Tonfall einer Mutter. Mit genau der richtigen Portion Wut darin – und Wut war jetzt die richtige Reaktion. Mitleid, Mitgefühl oder Angst hätten den Befehl so schlimm verwässert, dass er nicht funktioniert hätte – aber Marya vertraute Kaylin.
Und der arme Mann? Er hatte nichts. Er versuchte aufzustehen. Stolperte. Kaylin fragte sich, ob er in Ohnmacht fallen würde. Besser wäre es.
Ohne ein weiteres Wort zog sie ihr Messer. Es war nicht sauber, aber es musste reichen. Sie hörte aus weiter, weiter Ferne einen unterdrückten Schrei und Maryas wütende Worte, die versuchten, ihn zu übertönen.
Und dann überließ sie sich ganz dem Klang der zwei schlagenden Herzen, eines mühsam und langsam, das andere so schnell und leise, dass man es kaum hören konnte.
Zwei Stunden später war Kaylin fertig.
Marya fasste ihre Hände und zwang sie, jeden Kontakt mit der jungen werdenden Mutter zu unterbrechen. Kaylin konnte ein Kind schreien hören, konnte das eingewickelte – und saubere – Baby in den Armen seiner Mutter sehen. Die Wunde – was von ihr übrig war – war neu und offen, aber sie blutete nicht.
“Der … der Vater?”
“Er ist hier, im Sessel”, sagte Marya mit der sanften Stimme, die sie sich für Verletzte aufsparte. “Das Messer hat ihn ein wenig beunruhigt, Liebes”, erklärte sie. “Wir mussten ihn festhalten.” Sie schwieg einen Augenblick. “Dein Begleiter war dabei sehr hilfreich.”
“Mein Begleiter?” Kaylin schüttelte den Kopf. “Wer …” Sie drehte den Kopf zur Seite, was anstrengender war, als sie es sich im Augenblick wünschte, und entdeckte Andellen. “Er ist nicht mein … er hat ihm doch nicht wehgetan, oder?”
Marya schüttelte den Kopf. “Jedenfalls nicht sehr. Ich glaube, er wird eine Prellung am Kiefer zurückbehalten, aber, Liebes, er hat einfach nicht zugehört.”
Kaylin konnte es sich vorstellen. Blut hatte auf die meisten Menschen diese Wirkung. Sie versuchte es in Worte zu fassen, aber Marya nutzte die Gelegenheit, um ihr Wasser in den Mund zu träufeln. “Nicht für mich …”
“Du solltest deinen Mund mal sehen.” Mit Marya streiten hatte keinen Sinn. “Ich habe dafür gesorgt, dass sie trinkt”, fügte Marya an.
“Sag ihr …”
“Später, Liebes. Es wird ein Später geben, dank dir.” Sie hielt inne. “Es ist ein Mädchen.”
“Oh. Gut.” Mehr konnte man zu so etwas kaum sagen.
Kaylin versuchte aufzustehen, und ihre Knie zitterten.
“Da ist ein Stuhl für dich, falls du ihn brauchst. Ich habe
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