Kaylin und das Geheimnis des Turms
Verlasse ihre Seite, und du wirst auch ohne Treueschwur Mein.”
Andellen senkte seinen Kopf. Ohne nachzudenken, berührte Kaylin seine Schulter, sie lag auf der Höhe ihrer Hand, wenn sie die Hand etwas hob. Seine Rüstung war kalt und hart. Aber er schüttelte ihre Hand nicht ab. Sie wollte ihn in diesem Augenblick nach Hause schicken. Um ihm diese Demütigung zu ersparen.
Hätte ihr jemand – selbst Severn – erzählt, dass sie einmal Mitleid mit einer der Wachen des Koloniallords empfinden würde, hätte sie gespuckt. Und dann wäre sie wahrscheinlich sehr, sehr schnell weggerannt.
Er verschaffte ihr Zeit. Er hatte seine Würde eingebüßt,
um
ihr Zeit zu verschaffen. Sie konnte ihm nicht einmal danken, weil der Preis dafür zu hoch wäre – für ihn. Also sagte sie kein Wort.
Rettung kam aus einer unerwarteten Richtung, eine Erinnerung daran, dass Beten nicht immer die beste Lösung war. Die Götter von Elantra hatten einen bösartigen Sinn für Humor.
“High Lord”, sagte eine Stimme, die sie erkannte. Sie versuchte, das Gesicht nicht zu verziehen. Aber sie sah sich um. Auf dem Weg durch die Ränge der versammelten hohen Barrani vertrieb eine vertraute rote Robe alle Farbe aus dem Kreis. Lord Evarrim aus dem Arkanum hatte seinen großen Auftritt.
“Lord Evarrim”, begrüßte der oberste Lord ihn und neigte seinen Kopf. Er trat zurück und setzte sich wieder auf seinen Thron. Die Frau neben ihm richtete sich auf. Sie sah wie ein junger, schlanker Schössling aus. Bis man ihr in die Augen sah, und das tat Kaylin so kurz wie nur möglich.
“Die Sterbliche ist nicht
Erenne
.”
“Sie trägt das Zeichen.”
“Sie trägt das Zeichen”, wiederholte Lord Evarrim mit glatter, neutraler Stimme, “aber es ist nur eine schmückende Fassade. Der Ausgestoßene hat nicht beansprucht, was er gezeichnet hat.”
Daraufhin stand Andellen auf. Seine Hand lag stumm auf dem Griff seines Schwertes, sonst bewegte er sich nicht.
Teela jedoch tat es. Sie stellte sich neben Kaylin. Ihre eleganten Finger strichen über Kaylins Handgelenk, verweilten dort nicht. Aber der blaue Fleck schon. Wenn Kaylin Menschen, die zu viel redeten, auch noch nie gemocht hatte, begann sie langsam Leute, die überhaupt nicht redeten, noch weniger zu mögen.
“Sie ist nicht als
Erenne
ehrbarer Gast des Hofes”, sagte Teela ruhig, “sondern als
Kyuthe
des Lords der Westmarsche. Wollt Ihr auch seinen Anspruch infrage stellen?”
“Das würde ich”, sagte er.
Das Schweigen lag schwer in der Luft.
“Sie ist hier auf Geheiß der Lords der Gesetze”, sprach Lord Evarrim weiter, “und steht selbst jetzt neben ihrer Eidgenossin.”
Verwirrt sah Kaylin zu Teela auf, der sie nur bis zum Hals reichte. Teela flüsterte Severns Namen und berührte wieder Kaylins Handgelenk. Das Bedürfnis, Teela zu treten, verging, aber es kostete einige Mühe.
Severn trennte sich irgendwie von ihnen und bewegte sich dabei ebenso behutsam und leise wie die Barrani. Er ging auf den Thron des Kastenlords zu und streckte ihm ein Stück Papier entgegen. Papier schien an einem so edlen Hof wie diesem die Währung der Bettler zu sein, was sich in der Geste zeigte, mit der man es Severn abnahm.
Aber es wurde gelesen. Die Augen des Kastenlords waren jetzt blauer, auch wenn in ihren Tiefen immer noch ein Grünton verblieb. Kaylin fragte sich, ob es irgendetwas gab, das ihn wirklich aufregte. “Ich verstehe”, sagte er leise.
“Während der Feiertage”, erklärte Severn in fehlerfreiem, elegantem Hochbarrani, “haben die Lords der Gesetze mit vielen Untersuchungen zu tun, deren Natur etwas heikel ist. Ich wurde allein geschickt, damit jede für nötig gehaltene Nachforschung im Stillen und diplomatisch vonstattengehen kann. Falls es dem obersten Lord genehm ist, werde ich an seinem Hof sowohl Gast als auch Beobachter sein.”
“Und wenn es dem obersten Lord nicht genehm ist?”
“Es ist dem Kaiser genehm”, antwortete Severn. Ohne zu zucken oder nachzugeben.
“Und die
Kyuthe
meines jüngeren Sohnes?”
“Sie ist beurlaubt worden, High Lord. Es wird nicht von ihr verlangt, mir irgendwie behilflich zu sein. Sie fliegt nicht im Zeichen des Falken, und sie ist auch Lord Grammayre keine Rechenschaft schuldig, solange sie hier weilt. Sie ganz allein trägt die Verantwortung für ihre Handlung.”
“Lord Evarrim?”
Der Arkanist schwieg. Sein Blick hätte Metall schmelzen können, wovon Severn mehr als genug trug. “Vielleicht habe ich übereilt
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