Kaylin und das Geheimnis des Turms
“Ich ebenfalls – und es gibt viele, die sagen, mein Ehrgeiz übersteigt meine Fähigkeiten.” Auch wenn er nicht Elantranisch sprach, schien sie ihn damit nicht beleidigt zu haben. “Deshalb”, fügte er ernster hinzu, “habe ich dich kommen lassen.”
“Ihr konntet Euch nicht sicher sein, dass ich komme.”
“Nein. Nicht sicher. Du trägst das Zeichen Nightshades.” Er blickte in ihre Augen und wendete sich nicht ab. “Aber du bist nicht seine
Erenne
. Was das angeht, hat Lord Evarrim die Wahrheit gesagt.”
Sie zögerte. “Ich bin nicht seine Gemahlin”, sagte sie.
“Es gibt nur wenige Gemahlinnen, die sich von diesem Zeichen markieren ließen”, war die ernste Antwort. “Nicht einmal die Gemahlin des Kastenlord. Ich bin neugierig. Warum trägst du sein Zeichen, aber nicht seine Berührung?”
“Ich weiß es nicht.”
Seine Augen waren grün. Nur grün.
“Ich wusste nicht, dass er mich markieren würde”, fuhr sie leise fort, “und ich wusste auch nicht, was es bedeutet.” Sie drückte ihre Schultern gerade. “Aber ich verstehe, dass Unwissenheit keine Entschuldigung ist.”
Daraufhin lächelte er. Sie liebte sein Lächeln. Sie liebte es so, wie sie Clints aerianisches Lachen sofort geliebt hatte, diesen tiefen, hallenden Klang voll ehrlicher Zuneigung, egal wie er es meinte. Aber Clint war ein Sterblicher und ein Falke. Der Lord der Westmarsche war weder das eine noch das andere.
“Er hat es dir nicht erklärt?”
“Er hat gesagt, es dient zu meinem Schutz.”
“An diesem Hof ist es ein sehr kläglicher Schutz.”
“Das ist mir schon aufgefallen.”
“Lord Nightshade war nicht für seine Geduld bekannt. Auch nicht für seine Toleranz.”
“Ihr erinnert Euch an ihn?”
“Ich erinnere mich. Und, Kaylin, ich spreche seinen Namen. Lord Andellen wird verstehen, wie wichtig das ist, selbst wenn du es nicht tust.”
Sie drehte sich zu Andellen um. “Lord?” Sie flüsterte.
“Einer von dreien, die den Hof in Nightshades Dienst verlassen haben”, antwortete der Lord der Westmarsche.” Deshalb ist er als dein Beschützer hier.”
“Woher wisst Ihr das?”
“Wärest du es mir wert, den Zorn des Kaisers zu erregen, indem ich mein Zeichen an dich setze, hätte ich genau das getan.” Er drehte sich um. “Ich verschwende deine Zeit”, sagte er leise, “und dir bleibt nur so wenig davon. Das hat die Verständigung unter unseren Arten schon oft erschwert. Ich hatte nicht erwartet, dich das Medaillon von Sanabalis tragen zu sehen. Er ist für uns fast einen Legende. Du hast Freunde”, setzte er hinzu, “aber hier werden sie dir nichts nützen können. Komm, Kaylin. Es gibt einen Mann, den du kennenlernen sollst.”
“Noch einen Lord?”
Er nickte. “Man nennt ihn den Lord der grünen Auen.”
“Euer Bruder.”
“Mein Bruder.” Seine Augen waren blau geworden, aber es war ein blasses Blau, eine Farbe, die sie noch nicht deuten konnte.
Und doch, obwohl sie die Bedeutung nicht entschlüsseln konnte, spürte sie sie instinktiv. Bedauern.
“Ja”, sagte er leise. “Du bist stark. Stark genug, um das Medaillon des Drachen Sanabalis’ zu tragen, ohne dem Feuer ausgeliefert zu sein.” Er hielt kurz inne. “Ich weiß nicht, ob es diese Stärke ist, die verlangt wird. Aber ich weiß, dass eine größere Stärke vonnöten ist als meine.”
Er führte, und sie folgte, und nur für einen Augenblick, gefangen in Melancholie und Bedauern, die nicht ihr Eigen waren, wäre sie ihm überallhin gefolgt.
11. KAPITEL
I n Andellen ging eine kaum merkliche Veränderung vor. Kaylin bemerkte es, aber sie konnte nicht sagen, wie. Nichts an ihm schien verändert zu sein. Nicht seine Haltung, nicht sein Schweigen, nicht seine Miene oder die Farbe seiner Augen. Er ging kurz hinter ihr, und an seiner Seite Samaran. Beide im genauen Gleichschritt.
Andellen trat nicht hinter den Lord der Westmarsche zurück. Der Lord der Westmarsche schien es auch nicht von ihm zu erwarten. Aber etwas hatte sich verändert.
Sie hätte gefragt, wenn er sterblich gewesen wäre. Verdammt, sogar einen Drachen hätte sie wahrscheinlich gefragt. Aber seine Haltung schien wie immer Fragen zu verbieten. Also wendete sie ihre Aufmerksamkeit stattdessen ganz dem Lord der Westmarsche zu. Der Titel war ganz schön lang. Teela nannte man bei Hofe Anteela, und Lord Evarrim hatte etwas, was als Barraniname durchging – wobei “Name” bedeutete, dass man es benutzen konnte, ohne zu übertrieben und aufgeblasen
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