Kaylin und das Geheimnis des Turms
Westmarsche, als er auf sie zutrat, “du beehrst uns mit deiner Anwesenheit.” Er verbeugte sich. Die Verbeugung war nicht so niedrig, wie Teelas Verbeugung vor seinem Vater gewesen war, aber sie war auch nicht oberflächlich. “Vergebt mir meinen Mangel an Gastfreundschaft.”
Sie zögerte. Nach ihm zu sprechen würde sich wie Quaken anhören, nur noch schlimmer. Er schien es nicht zu bemerken. Andererseits hatte er auch den sehr toten Körper eines Wachmannes, der zu seinem Schutz eingeteilt war, nicht bemerkt, also war das nicht so tröstlich, wie man annehmen könnte.
“Sie ist
Kyuthe”
, sagte der Lord der Westmarsche. Er redete mit dem obersten Lord, und nur mit dem obersten Lord. “Und ich will nicht, dass gesagt wird, ich hätte Euch belogen, High Lord, um eine Agenda zu verfolgen, die nicht die Eure ist.”
Der oberste Lord nickte.
Teela trat zurück.
Und der Lord der Westmarsche trat auf Kaylin zu. Er lächelte. Sie hasste ihre Knie.
“Komm,
Kyuthe
.” Er streckte eine Hand aus, und sie starrte sie an. Und dann streckte sie ihre aus, die linke. Daran steckte sein Ring. Aber er schüttelte den Kopf. “Die rechte Hand”, sagte er leise zu ihr, “denn sie trägt keinen Schmuck.”
Andellen trat vor, und der Lord der Westmarsche sah ihm in die Augen. Sie starrten sich fast eine Minute an. Oder eine Stunde. Es war schwer zu sagen. Aber Andellen bewegte sich nicht, als der Lord der Westmarsche erneut seine Hand ausstreckte.
Kaylin hob ihre Rechte und legte sie in seine Handfläche.
Zwischen ihren Händen flackerte Licht und kroch an ihren Armen hinauf. Es war golden, bewegte sich, tanzte und nahm eine Gestalt und Form an, die sie erst ein einziges Mal gesehen hatte: im Wald, unter der Krone eines unmöglichen Baumes. Federn. Flugfedern.
Und um sie herum tanzten in einer herbstlichen Brise andere Farben: Rot und Gelb, Grün und Braun, Silber und Weiß.
Sie wollte seine Hand nicht loslassen.
Doch als er sich zurückzog, blieb ihr keine andere Wahl. “Ist der Hof damit zufrieden?”, fragte der Lord der Westmarsche. Doch er richtete das Wort erneut nur an seinen Vater.
Das Lächeln des Kastenlords war dem seines Sohnes gleich. “Er ist zufrieden”, antwortete er. “Willkommen, Kaylin Neya, am Hof der Barrani.”
Sie verneigte sich.
“Falls Ihr es gestattet, High Lord, zeige ich meiner
Kyuthe
jetzt die Hohen Hallen. Sie ist sterblich, und ihre Erinnerung besteht Jahrzehnte, nicht mehr, doch das, was sie gesehen hat, wird Geschichten entstehen lassen, die auch diejenigen verzaubern, die sie nie betreten können.”
“Lass es geschehen”, sagte der oberste Lord ruhig, “aber kehre mit deiner
Kyuthe
rechtzeitig zurück, um dich mit uns zur Dämmerung zu versammeln. Dann werden wir zu Abend essen und uns vielleicht unterhalten.”
Der Lord der Westmarsche verbeugte sich. Er bot Kaylin seinen Arm, und sie zwang sich, ihn so selbstverständlich anzunehmen, als wäre er Severns. Es fiel ihr schwer.
“Anteela”, sagte der Barranilord, als Teela ihnen folgen wollte, “bleib bei mir. Deine Zeit bei diesen Sterblichen könnte interessant sein. Unterhalte uns.”
Teela verneigte sich erneut und drehte sich zu ihm um. Sie sah Kaylin nicht noch einmal an.
“Und mit deiner Erlaubnis”, sagte der oberste Lord zu Severn, “wünsche ich auch deine Gesellschaft. Es liegt ein Schatten auf dir, der mich interessiert.”
Severns Verbeugung war fast so gut wie Teelas. Und auch er sah ihr nicht mehr nach.
“Der Korporal ist ein fähiger Mann”, urteilte der Lord der Westmarsche, als sie weit genug entfernt vom Wald und den Türen waren, die ihn einschlossen. Kaylin sah, dass sie nicht in der Eingangshalle waren. Sie hatte keine Ahnung, wo sie herausgekommen sein mochten. Aber sie wollte auch nicht fragen, ihr war fast schwindlig vor Erleichterung.
Sie biss sich auf die Zunge. Schmerz konnte normalerweise den Schwindel irgendwohin vertreiben, wo er weniger störte.
“Oh, er ist schon fähig”, sagte Kaylin. “Ich glaube, er hat noch nie bei etwas versagt, das er versucht hat.”
“Und wie viele Versuche hat er unternommen?”
Sie runzelte die Stirn.
“Am Ehrgeiz lassen sich viele Männer am ehesten messen.”
“Oh.”
“Frauen auch. Was ist dein Ehrgeiz, Kaylin Neya?”
“Ich würde das hier gern überleben”, antwortete sie auf Elantranisch, ohne nachzudenken. Andellens Stirnrunzeln war wie ein Spiegel. Aber nur kurz.
Überraschenderweise lachte der Lord der Westmarsche.
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