Kaylin und das Geheimnis des Turms
zu diesem Augenblick. Wenn sie heilte, sahen sie zu. Sie beobachteten. Sie sprachen. Sie wiesen ihr den Weg.
“Sein Name.”
Der Lord der Westmarsche berührte sanft ihr Gesicht. “Was ist mit seinem Namen, Kaylin?”
“Jemand anders hält ihn fest. Etwas anderes.”
“Warum sagst du das?”
“Weil er es nicht tut. Nicht … nicht so wie Ihr. Nicht so wie Teela. Nicht …”, und sie drehte sich um und strich über Andellens Gesicht, ehe er sich bewegen konnte, “… so, wie Andellen es tut. Er ist da, aber eben auch nicht.”
“Das ist die Definition der Unsterbenden”, sagte der Lord der Westmarsche mit nur einem Hauch Herablassung. Es machte ihr nicht einmal etwas aus.
“Deshalb versucht er zu sterben. Deshalb versucht er seinen Namen abzulegen. Es geht ihm nicht um
Macht”
, schlussfolgerte sie, “es geht nicht darum, der Tyrannei des Namens zu entkommen. Er will dem Mann entkommen, der ihn festhält. Versteht Ihr nicht? Er hat seinen Namen verloren. Er versucht sich auf die einzig mögliche Art von ihm zu befreien, wegen
Leoswuld
. Er tut es, weil er weiß, dass er keine Hülle für etwas sein kann, wenn er … unsterbend ist. Was auch immer der Lord des Barranihofes zu geben hat, er wird es dem Lord der grünen Auen nicht geben.”
Der Lord der grünen Auen sah sie an. Nur sie.
Aber er leugnete die Wahrheit in ihren Worten nicht.
“Er kann sich nicht umbringen”, sagte sie leise, “so viel Kontrolle hat er nicht mehr. Ich glaube, er hat versucht, sich von Euch umbringen zu lassen.” Sie fügte noch etwas hinzu. “Ich halte Euren Namen.” Sie sprach mit dem jüngeren Bruder, sah aber dem älteren dabei in die Augen.
Der Lord der Westmarsche erstarrte. Sie hatte fast vergessen, dass auch Andellen anwesend war. Aber was sie zu sagen hatte, war wichtig genug, um es zu ignorieren.
“Falls Ihr Euch davon befreien wolltet, wie würdet Ihr es anstellen?”
“Ich würde dich umbringen.”
“Und das würde funktionieren?”
“Ja.”
“Sicher?”
“Ja.”
“Dann findet die Person, die seinen Namen trägt, und tötet sie.”
“Deshalb,
Kyuthe
, bist du hier.”
“
Was?”
“Ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, welcher Mann den Namen meines Bruders tragen könnte, jedenfalls nicht mit hundertprozentiger Sicherheit. Aber es gibt einen, der es können muss”, fügte er grimmig hinzu, “und wenn ich meinen Bruder nicht befreien kann, wird es hier enden.”
Die Worte ergaben für Kaylin überhaupt keinen Sinn. Sie tat ihr Bestes, um das Problem zu umgehen, indem sie noch einmal die Fakten aufzählte. “Euer Bruder hätte Euch fast umgebracht.”
“Ja.”
“Und nicht aus eigenem Antrieb.”
“Nein. Wir haben uns viel gestritten, aber wir haben uns nie zum Sippenmord herabgelassen. Ich hatte nicht erwartet … ich hätte nicht gewusst … aber er muss gerade genug Kontrolle über sich zurückbehalten haben, dass ich fliehen konnte.”
“Aber Ihr müsst Eure Namen
hergeben
.”
Er sagte nichts.
Kaylin blickte in sein Gesicht. Für einen Augenblick verbarg er nichts. Sie drehte sich zum Lord der grünen Auen um. “Ich werde es tun”, sagte sie leise. “Ich werde … Euch befreien.”
Und er sah sie an … und nickte. Sein Gesicht verzog sich vor Schmerzen.
“Es ist an der Zeit”, sagte der Lord der Westmarsche, “zu gehen.” Seine laut gesprochenen Worte ähnelten sehr dem Hochbarrani. Aber sie waren keine Art von Barrani, die Kaylin verstand.
Die Flüssigkeit begann sich zusammenzuziehen. Der Lord der grünen Auen wurde langsam in die Tiefen zurückgezogen, die ihn vor allen Blicken verbargen.
“Falls er stirbt”, sagte sie, “werdet Ihr der oberste Lord.”
“Ja. Vielleicht werde ich mit der Zeit oberster Lord, egal, was geschieht. Aber nicht so, Kaylin. Niemals so.” Er neigte kurz den Kopf. Als er ihn wieder hob, waren seine Augen blau. “Ich bringe dich in deine Gemächer”, sprach er leise.
“Meine … oh, klar.”
“Ich habe dort alle Vorkehrungen für dich treffen lassen. Die Räume schließen an meine privaten Gemächer an, wie es sich für eine
Kyuthe
gehört.” Er drehte sich um und begann den Raum zu verlassen.
In Gedanken rief sie ihm nach.
Er blieb stehen.
“Wie soll mir gelingen, was Ihr nicht könnt?”
“Ich weiß es nicht”, antwortete er. “Aber du hast mich geweckt, mich gefunden, als ich verloren war.”
“Das kann ich für ihn nicht tun. Ich glaube, ich würde es nicht überleben, ihn zu berühren
Weitere Kostenlose Bücher