Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kaylin und das Geheimnis des Turms

Kaylin und das Geheimnis des Turms

Titel: Kaylin und das Geheimnis des Turms Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Sagara
Vom Netzwerk:
über.” Er hielt kurz inne. “Meinen Bruder.”
    Sie schüttelte den Kopf. Die Worte waren so falsch – auch wenn sie ihre Bedeutung nicht ganz verstand –, dass es ihr schwerfiel, zu atmen. “Er … stirbt.”
    Und der Barrani, den man Lord der grünen Auen nannte, sagte: “Ja.”
    Der Lord der Westmarsche stellte sich neben Kaylin an den Rand des Kreises. Er machte sich nicht die Mühe, Schmerz und Sehnsucht zu verbergen, auch wenn das Wort nicht für seine Ohren bestimmt gewesen war.
    “Du weißt von den Untoten”, wandte er sich an Kaylin. Er hätte mit der gleichen Stimme auch vom Wetter sprechen können. Gefühle waren einzig und allein für seinen Bruder bestimmt, und daran war nicht zu rütteln.
    Doch sie nickte. Weil es genau das war, was sie
fast
im Lord der grünen Auen erkannte. Fast.
    “Dann weißt du auch von der Torheit hinter der Wahl der Unsterbenden.” Nicht Unsterbliche, Unsterbende.
    Sie schluckte. “Die Namen”, flüsterte sie.
    “Ja. Namen haben Macht. Und die, die unsere Namen tragen, haben Macht über uns.” Daraufhin sah er sie an. Sie sagte nichts. “Wenn”, fügte er einschränkend hinzu, “ihr Wille der größere ist und ihre Macht die größere Macht.”
    “Er versucht, seinen Namen zu geben …” Sie verstummte.
    Richtete sich wieder auf, fand die Kraft ihrer Knie wieder. Sie schüttelte Andellen ab, und er ließ sie los. “Nicht, um frei von seinem Namen zu sein”, sagte sie leise. “Deshalb tut er es nicht.”
    “Nicht?”
    Sie wollte den Lord der Westmarsche schlagen. Kräftig. Sie biss sich stattdessen auf die Lippe, weil sie keinen Zweifel daran hatte, dass er den Schlag erwidern würde, und aus diesem Schlagabtausch würde sie nicht als Siegerin hervorgehen.
    Der Lord der grünen Auen beobachtete sie.
    Und dann hob er seine Hände, mit den Handflächen nach außen. Sein Bruder wendete sich ab. Es half nicht, sie konnte den Hunger in ihm sehen. Aber da war noch mehr als bloßer Hunger.
    Sie hob ihre eigene Hand. Der Lord der grünen Auen bewegte sich nicht. Sie streckte sie zitternd nach ihm aus, und ihre Ärmel zogen durch die Flüssigkeit, die sein Gefängnis gewesen war. Oder sein Schutz.
    Ihrer beiden Finger berührten sich.
    Sie hatte schon vorher Barrani angefasst. Verdammt, sie hatte Teela ein halbes Dutzend Mal aus ihrem Bett schieben müssen, nachdem sie sich betrunken hatten und ihre Erinnerung zu verschwimmen begannen. Sie hatte auch Tain angefasst, meistens, um ihn zu ärgern. Sie hatte Nightshade berührt. Und den Lord der Westmarsche.
    Keiner von ihnen hatte sie auf das hier vorbereitet.
    Denn als sie ihn berührte, sah sie nicht sein Leben, nicht seine Verletzungen, überhaupt nichts von
ihm
. Stattdessen sah sie sich selbst. Spürte ihr Leben, fühlte Kaylin, wie sich ihre Erinnerung immer wieder abspielte, als wäre sie das Archiv und er würde sie heraufholen. Sie betrachtete die Zeichen auf ihren Armen mit Schrecken und Angst als etwas Neues; sie sah die Zeichen auf den Toten als Nachahmung ihrer eigenen Sterblichkeit. Sie erblickte das schlaffe Gesicht ihrer Mutter, die bleiche Haut, sie zuckte vor dem Gestank nach ihrem Tod zurück. Sie sah Severn, wie sie ihn damals wahrgenommen hatte, stumm wartend, in seinen Augen ihren Verlust gespiegelt, in seinen Worten das Versprechen, dass er sie vor jedem weiteren Verlust beschützen würde.
    Sah Blut … hörte Schreien.
    Ihres. Nur ihres.
    Der Lord der Westmarsche packte sie an der Hand und zog sie zurück. Er zerbrach damit den Kontakt. Ihre Kehle war wund.
    Aber nicht so wund, dass sie nicht mehr sprechen konnte.
    “Er will meinen Namen”, flüsterte sie.
    “Ja. Und Sterbliche haben keinen Namen. Sie haben Leben. Sie sind die Summe dessen, was sie erleben.”
    “Elianne”, sagte der Lord der grünen Auen.
    Sie schloss ihre Augen. “Das bin ich nicht”, murmelte sie. Aber sie log. Ihre Finger brannten. Dort, wo der Lord der grünen Auen sie berührt hatte, brannten sie.
    “Er war es, nicht wahr?”, fragte sie den Lord der Westmarsche. “Wegen ihm habt Ihr …”
    “Er ist meine Sippschaft”, antwortete der Lord der Westmarsche. “Ich wollte ihn vor seiner Wahl erretten. Ich habe versagt.”
    “Das ist nicht …” Sie rang mit den Worten. Das tat sie immer, wenn es wichtig war. So gut kannte sie sich schon. Ihre Finger kribbelten; sie erzählten eine Geschichte. Ihre Hände waren wie Augen, wenn sie die Lebenden berührte. Das hatte sie nicht gewusst – nicht deutlich –, bis

Weitere Kostenlose Bücher