Kaylin und das Geheimnis des Turms
ihm gut. Welche Auswirkung hätte dann Euer Tod?”
“Er würde den obersten Lord betrüben.”
“Aber es würde in dessen Augen keinen Unterschied machen.”
“Du verstehst die Barrani schon ein wenig, Kaylin. Es würde kaum einen Unterschied machen. Vielleicht würde es zu einer anderen Zeit die Feiertagsstimmung dämpfen, die Lieder leiser erklingen lassen und die Geschichte des Hofes würde mit gedämpfter Stimme erzählt. Aber dies ist die Zeit des
Leoswuld
, und selbst der Tod innerhalb der Sippe verliert an Bedeutung.”
“Ich wurde überstürzt gerufen, um Euch zu heilen”, entgegnete sie ohne Umschweife. Auch wenn Teela recht hatte, war es schwer, auf Hochbarrani keine Umschweife zu machen.
“Ah?”
“Und man hat mir gesagt – genau wie meinem Lord –, dass es Krieg gibt, wenn ich versage.”
Er nickte. Seine Finger umfassten den Stiel eines Glases, das zu zerbrechlich schien, um überhaupt Luft zu enthalten, ganz zu schweigen von einer goldenen Flüssigkeit.
“Aber wenn ich es richtig verstehe, Lord der Westmarsche, kommt es nur dann zu einem Krieg, wenn
beide
Söhne des Kastenlords ihm genommen werden.”
Der Lord der Westmarsche schwieg.
“Ihr habt eine Schwester.”
“Die haben wir.”
“Aber sie kann das Leben des Kastenlords nicht auf sich nehmen.”
“Nein. Es würde sie und unser Volk auf eine Weise verdammen, die ich nicht erklären werde.”
“Deshalb müsst entweder Ihr oder Euer Bruder es sein, der die Gabe des obersten Lords annimmt.”
Er nickte.
Kaylin wechselte frustriert ins Elantranische. Diese Sprache empfand sie wie eine zweite Haut und fühlte sich darin deutlich wohler als in dem künstlichen, hochtrabenden Barrani. “Hört zu, ich bin nicht doof. Wenn Ihr beide tot seid, gibt es niemanden, der die Gabe empfangen kann. Entweder der oberste Lord gibt sie nicht weiter – oder er schenkt sein Leben einem anderen. Zu entscheiden, wer dieser ‘andere’ sein soll, führt zu einer Menge Blutvergießen. Ich nehme an, dass es derjenige wird, der am Ende noch steht. Sagt einfach Bescheid, wenn ich falschliege, okay?”
Der Lord der Westmarsche blickte zu Andellen. “Ist sie immer so schwierig?”, fragte er auf Hochbarrani.
“Ich bin erst vor Kurzem als ihre Wache eingeteilt worden, aber aus meiner kurzen Erfahrung heraus würde ich sagen, normalerweise ist sie
noch
schwieriger.”
Kaylin, noch nie ein großer Freund von Arroganz, fand es schwer, sich nicht aufzuregen. Sie versuchte es, kam aber nicht sehr weit. “Was ich zu sagen versuche, ist, dass Teela es
wusste
. Das mit dem Lord der grünen Auen.”
“Er hat verstanden, was du angedeutet hast”, sagte Andellen sanft zu ihr.
“Und der oberste Lord wusste es.”
Der Lord der Westmarsche reichte ihr ein Glas. Sie hatte erwartet, dass es in ihrer Hand zerspringen würde. Tat es nicht.
“Meinst du wirklich, Anteela könnte den Hof verlassen haben, ohne dass er es weiß? Meinst du, dass du – mit deinem ausgestoßenen Lord – ohne sein Wissen durch die Statuen treten konntest?”
“Ja, schon, wenn Ihr es unbedingt wissen wollt.”
“Dann begreifst du den obersten Lord nicht. Und du begreifst deine Freundin nicht. Sie
dient
dem obersten Lord, Kaylin.”
“Sie dient dem Falkenlord.”
“Selbst dieser Dienst untersteht den Launen des Kastenlords. Ich weiß nicht alles, was geschehen ist, während ich fort war”, fügte er hinzu, ohne seinen Blick von ihr abzuwenden, “aber ich bin mir sicher, sie muss sich an ihn gewandt haben. Sie muss ihm sehr viel mehr von deiner Geschichte erzählt haben, als du auf seinen Willen hin preisgegeben hast. Du gehörst nicht zur Sippe”, fuhr er fort, “und jeder Anspruch, den sie an dich stellt – und für deine Rasse ist es ein sehr großer –, ist im besten Falle vorläufig. Doch sie ist gegangen, hat sich beeilt. Und ist genauso schnell zurückgekehrt. Sie wird mir nicht sagen, was vorgefallen ist, und das ist klug von ihr. Sie beantwortet aber auch meine Fragen nicht, und das ist weniger klug.” Sein Stirnrunzeln war fein gezeichnet und durchaus anziehend. “Aber Anteela konnte nicht wissen, was zwischen mir und dem Lord der grünen Auen vorgefallen ist, als wir uns das letzte Mal unterhalten haben.”
“Wer hat Euch gefunden?”
Er antwortete nicht.
“Es muss Teela gewesen sein. Ihr wart bei ihren Wachen.” Sie setzte das Glas ab, ohne davon getrunken zu haben. “Wer könnte aus Eurem Tod einen Vorteil ziehen?”
“Viele, wenn es um
Weitere Kostenlose Bücher