Kaylin und das Reich des Schattens
trotzdem an. Dann löschte sie den Spiegel und betrachtete ihr Gesicht. Sie zuckte zusammen. Unter ihrem rechten Auge erblühte eine farbenfrohe Prellung, und ihre Lippe war geschwollen. Sie konnte sich nicht helfen, diese Dinge zu bemerken, auch wenn sie nach etwas anderem gesucht hatte.
Das Zeichen von Nightshade prangte auf ihrer Wange, und auch wenn ihr Gesicht in dem Kampf Schaden genommen hatte, diese aufwendige Narbe wurde davon nicht beeinträchtigt.
Sie nahm ihre Haare zusammen, schob sie sich ohne viel Aufhebens aus dem Gesicht, und suchte durch den Bodensatz ihrer Wäsche nach etwas, das wie ein Umhang aussah. Sie fand einen – na ja, etwas mit einer Kapuze – und legte ihn um. Kleid und Umhang sahen zusammen einfach furchtbar aus.
Es tat ihr weh, zuzugeben, dass Marcus und der Falkenlord recht hatten, aber das tat sie – es gab keine Zeugen. Sie musste irgendwie mit ihrer Vergangenheit fertig werden, und Severn umbringen kam nicht infrage.
Aber sie war nicht mehr dreizehn Jahre alt. Sie wusste, wohin Severn gegangen war, als er in jener Nacht verschwand. Sie wusste, wohin er gegangen sein
musste
. Und sie wusste, dass etwas, was er von Nightshade erfahren hatte, dafür gesorgt hatte, dass er zurückgekehrt war, um ihre Familie zu ermorden – ihre Kinder.
Nightshade gehörte der höchsten Kaste der Barrani an, egal, ob er ein Ausgestoßener war oder nicht. Teela hatte das angedeutet, auch wenn sie sich lieber die Zunge herausgeschnitten hätte, statt es laut zu sagen. Und Kaylin wusste – durch die Jahre, die sie damit zugebracht hatte, den Zwillingen hinterherzulaufen –, dass die Barrani berüchtigte Lügner waren. Je mächtiger und bedeutender sie waren, desto tödlicher ihre Lügen.
Er hatte Severn angelogen.
Er
musste
Severn angelogen haben. Und Severn war achtzehn Jahre alt gewesen.
Wenn Kaylin ihre Wut nicht an Severn auslassen konnte, konnte sie sich immer noch ein anderes Ziel suchen. Ein tödliches Ziel. Sie drückte ihre Schultern nach hinten und sah noch einmal in den Spiegel, diesmal durch die Maske aus Prellungen, die mit der Zeit vergehen würden, hindurch.
Keine Dreizehnjährige stand mehr vor ihr. Kein Kind.
Sie ballte die Hände zu Fäusten.
Auch keine Catti.
Sie sammelte einige Münzen zusammen, ihre Dolche, und kein Anzeichen, dass sie jemals ein Falke gewesen war.
Der Spiegel blitzte.
Sie antwortete, weil sie auf dem Weg zur Tür sowieso daran vorbei musste.
Marrins Gesicht erschien auf der Spiegelfläche. “Kaylin”, sagte sie. Das Knurren war verschwunden. Nicht einmal Marrin konnte mehr als einige Stunden am Stück blutdurstig bleiben, auch wenn Kaylin sich sicher war, dass mit ihrer Kraft auch die Wut zurückkehren würde. Wie konnte sie nicht? Catti wurde immer noch vermisst.
“Marrin”, sagte Kaylin leise.
“Haben die Falken –”
Kaylin machte sich nicht die Mühe, der Leontinerin zu sagen, dass sie vom Dienst suspendiert worden war. “Nein.”
Der Atemstoß, der folgte, verletzte Kaylin auf eine Art, zu der Wut nicht in der Lage war.
“Ich gehe auf die Suche nach ihr”, fuhr Kaylin leise fort, “und ich schwöre dir, Marrin, dieses Mal finde ich sie, bevor – bevor –”
“Gut.”
Das Licht des Spiegels flackerte auf. Kaylin legte die Stirn gegen das silberne Glas, auch wenn sie wusste, dass es danach gereinigt werden musste. Und dann begab sie sich auf den Weg zur Tür. Sie dachte daran, beide Schlösser hinter sich zu verriegeln. Sie war sich nicht sicher, wann sie zurückkehren würde, und auch wenn sie nicht mehr in den Kolonien war, wusste sie doch, wann sie aufzupassen hatte.
Wenn es ihr passte.
13. KAPITEL
D er Fried der Burg Nightshade stand entfernt von der Kolonie, über die sie regierte, wie ein zu Recht arroganter Aristokrat – einer von denen, die Kaylin nie befragen durfte, wenn sie doch einmal die Lords der Gesetze zu sich riefen. Vor seinen Mauern hingen Käfige von langen Ketten; sie waren leer. Falls jemand den Lord in letzter Zeit verärgert hatte, war er – oder sie – bereits tot, und ihre Leichen nicht länger zur Schau gestellt.
Die Leute sahen ihr in die Augen, und einige, ermutigt von ihrer Überzahl, hielten ihrem Blick sogar stand. Aber das Zeichen auf ihrer Wange, das in den Randbezirken der Stadt fast peinlich gewesen war, gab ihr das Recht, hier zu sein. Niemand wagte es, eine Hand gegen sie zu heben. Es wäre nützlich gewesen, als sie noch jünger war.
Sie hatte allerdings das Gefühl, dass es auch
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