Kaylin und das Reich des Schattens
seinen Preis gehabt hätte. Wie hoch er war, musste sie noch feststellen, und genau deswegen war sie hier. Sosehr es einem Barrani möglich war, war Teela ihre Freundin – aber sie erzählte ihr mit Sicherheit nicht alles. Andererseits log sie auch nicht, und das bedeutete schon viel – Barrani fiel das Lügen noch leichter als atmen.
Das Tor, das sie bei ihrem ersten Besuch bei lebendigem Leib verschlungen hatte, erwartete sie auch dieses Mal. Es war hinabgelassen. Kaylin fragte sich, ob es je offen war, aber sie stellte diese Frage niemandem. Stattdessen ging sie darauf zu.
Während sie das tat, glitten Barrani aus den Schatten. An beiden Seiten des Tores schienen kleine Wachhäuser in die Mauer gebaut zu sein, auch wenn sie sie bei ihrem ersten Besuch nicht bemerkt hatte. Damals war sie fast in Panik geraten und hatte sich von ihrer Verwirrung leiten lassen.
Mit der Verwirrung war sie erst einmal fertig.
Einer der zwei Barrani-Wachen hielt ihrem Blick stand. Er war perfekt, sein Gesicht ohne Narben, seine Waffen – zwei Schwerter, die nur die Barrani in den Kolonien zu bevorzugen schienen – steckten stumm in ihren Hüllen.
Sie verbeugte sich nicht, als sie auf die beiden zutrat. Sie streckte auch nicht ihre Hände mit den Handflächen nach oben aus, um zu zeigen, dass sie nicht bewaffnet war – was nichts zu bedeuten hatte, wenn die Wachen auch nur ein wenig von ihrer Aufgabe verstanden. Sie ging einfach weiter.
Es überraschte sie, dass die Wachen sich verbeugten. Wenn ihre Bewegungen steif und zögerlich waren, dann deswegen, weil die Geste ihnen nicht vertraut war. Als Wachen eines Koloniallords wurde ihnen diese Höflichkeitsbekundung der höheren Kasten kaum abverlangt.
Sicherlich nicht von einem mutterlosen Findelkind oder den Waisen, aus denen sie sich eine kurzlebige, notwendige Familie geschaffen hatte.
“Kaylin Neya”, sagte einer der beiden Männer. Sie waren beide Männer. Die Frauen der Barrani blieben eher auf der rechten Seite des Gesetzes, wenigstens, was die Kolonien anging. Wahrscheinlich hatten sie die Wahl.
Sie sprach ohne viele Umschweife und im besten Barrani, zu dem sie sich je gezwungen hatte. “Ich bin gekommen, um mit Lord Nightshade zu sprechen.”
“Er erwartet Euch”, entgegnete ein Wachposten und trat zur Seite. Wie ein Spiegelbild tat die andere Wache das Gleiche.
Sie hatte das Gefühl, dass sie auch das schlechteste Barrani seit Jahren hätte sprechen können, seine Antwort wäre die gleiche geblieben. Was irgendwie schade war, denn jetzt gab es nichts mehr, was zwischen ihr und dem geschlossenen Fallgatter stand.
“Geöffnet wird das Tor wohl nie?”, fragte sie ohne viel Hoffnung.
Keine der Wachen bedachte sie mit einer Antwort, also straffte sie die Schultern, senkte ihr Kinn und ging vorwärts.
Dieses Mal verlor sie das Bewusstsein nicht.
Der Raum, den sie betrat, war der gleiche, den sie beim letzten Mal gesehen hatte, aber dieses Mal blieb ihr Zeit, ihn sich anzusehen, weil sie nicht von einem wütenden Falken und einem genauso wütenden Drachen begleitet wurde. Tatsächlich begleiteten sie zu ihrem Erstaunen nicht einmal Wachen. Falls der Lord sich in seiner Burg bedroht fühlen konnte, dann nicht durch jemanden wie sie. Sie war sich nicht sicher, ob sie deswegen beleidigt sein sollte oder nicht. Sie einigte sich auf ein entschlossenes Nicht.
Die Decken waren niedriger als die Decken in den fast schon mythischen Langen Hallen – nicht einmal vier Meter – und auf hohen, glänzenden Tischen an den Steinwänden neben dem Eingang standen vergoldete Kerzenleuchter. Der Boden hatte einen rauchigen Grünton, und ihre Stiefel klangen viel lauter als sonst, als die Absätze dagegenschlugen.
Alles in allem ähnelte die Eingangshalle denen von vielen feinen Herrenhäusern – oder wenigstens den wenigen, in die man sie während ihres Dienstes als Falke eingelassen hatte. Ihre Vergangenheit in den Kolonien machte sie zu einer ungeeigneten Kandidatin für derart “delikate Verhandlungen”, die von den Falken verlangt wurden, wenn sie mit einflussreichen, wichtigen – und vor allem reichen – Persönlichkeiten zu tun hatten. Geld machte ihr keine Angst, und es beeindruckte sie auch nicht. Unglücklicherweise sorgte es an den falschen Tagen dafür, dass in ihr Widerwillen zu brodeln begann. Und ihr Gesicht verbarg ihre Gefühle nie.
Tatsächlich war das Einzige, was sie im Raum einschüchterte, der Lord selbst. Unglücklicherweise war er das Einzige, was
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