Kaylin und das Reich des Schattens
getötet”, fügte er hinzu, ehe sie sich an seinem Schutz, an seinem Willen, sie zu beschützen, stoßen konnte. Und das hätte sie – aber nur vordergründig. Als Maske.
“Ich –”
“Aber bis auf das eine Mal war es immer aus Selbstschutz. Immer in einem sauberen Kampf.”
Sie zuckte zusammen, weil sie glaubte, dass er von dem einen Mal sprechen würde, als sie die Kontrolle über ihre Gabe verloren hatte – und erfahren musste, was das zur Folge haben konnte.
Aber stattdessen sagte er etwas ganz anderes. “Du hast Kinder immer gerngehabt.” Er wusste es. Er ging darüber hinweg. “Dieses Mal ist es etwas anderes. Der Kampf findet im Inneren statt, und nur du und Severn könnt ihn beenden.”
Sie verzog das Gesicht. “Und nicht, indem ich Severn umbringe.”
“Glaubst du wirklich, dass dir das Frieden bringt, oder einen Abschluss?”
Sie nickte knapp.
“Dann bist du noch jung.”
“Kann er damit einfach davonkommen?”
“Die Kolonien gehören nicht zur Domäne der Lords der Gesetze”, antwortete der Falkenlord.
“Das ist nur praktisch so. In der Theorie –”
“Praktisch”, fuhr er ruhig fort, “sind die Kolonien ihren Lords überschrieben worden. Selbst wenn ich seinen Tod wünschte, diese Sache müsste ich an den Wolflord weitergeben.”
“Dann rede mit ihm –”
“Und ich erinnere dich daran, dass Severn ein Schattenwolf war. Der Wolflord weiß, wozu er fähig ist, sonst hätte er Severn nie in die Ränge der Schatten aufgenommen. Nicht alle Verbrechen werden vergeben, wenn man sich entschließt, den Lords der Gesetze zu dienen – aber jene, die in fremden Gebieten begangen wurden, werden für unsere Entscheidung normalerweise nicht in Betracht gezogen.” Er atmete ein, hielt die Luft an und richtete seine Flügel. “Severn wird in einer Viertelstunde hier sein, Kaylin.”
“Hier? Warum?”
“Du bist nicht die Einzige, der eine Suspendierung droht. Auch wenn die Wahrheit in diesem Fall etwas gedehnt ist, braucht es doch zwei für einen Kampf.”
“Dann frag ihn, warum”, sagte sie bitter. “Frag ihn. Ich hoffe, du bekommst eine Antwort.”
“Und du willst ihn nicht fragen?”
Sie schüttelte den Kopf. “Nicht in diesem Leben.”
“Warum?”
“Weil es mir egal ist.”
Er kniff die Augen zusammen, widersprach ihr allerdings nicht. “Du bist suspendiert”, sagte er ihr ruhig. “Wende dich an Marcus. Wenn du den Hauptmann überzeugen kannst, dass deine Handlungen den Falken nicht grundlegend geschadet haben, dann bekommst du vielleicht sogar einen Teil deines Lohnes ausgezahlt, während dein Fall untersucht wird.”
Marcus wartete schon auf sie. Severn nicht. Sie hatte keine Ahnung, wie er die Treppe zum Turm hinaufkommen wollte, aber er wollte dabei wohl nicht gesehen werden. Da ihre Hände schon auf den Griffen ihrer Dolche lagen, eine Bewegung so alt wie ihr Gedächtnis, war das offensichtlich eine gute Idee von ihm.
Marcus knurrte, als er sie sah, und sie bemerkte, dass nicht einmal Caitlin im Büro geblieben war. Sie fragte sich beiläufig, ob sich die Abteilungen der anderen Lords auch auf diese Art leerten, aber sie bezweifelte es. Keine andere wurde von einem Leontiner beaufsichtigt.
Er hatte seine Krallen ausgefahren. “Gefreite”, sagte er knapp, mit einem Knurren, dass das R in die Länge zog.
“Hauptmann.”
“Der Falkenlord hat sich Zeit genommen. Wie ich sehe, war er so nett, mir etwas übrig zu lassen.”
Sie sackte zusammen. Sie war müde, bis auf die Knochen. Sie hatte Schnittwunden, auch wenn sie sich nicht erinnerte, woher. Wenn blinde Wut sie packte, hinterließen Schmerzen kaum einen Eindruck, es sei denn, sie wurde dadurch verlangsamt.
Sie hatte Fragen erwartet. Er hatte ein Recht, sie zu stellen. Sie erwartete Wut und hatte ihren Hals bereits als Antwort entblößt. Aber seine Augen waren klein und warm.
Er sprach ohne Umschweife weiter. “Du bist suspendiert.”
Sie nickte.
“Kann sein, dass es für immer ist.”
Sie nickte wieder. Sie hatte bereits den Verlust einer Familie überstanden, und sie wollte um jeden Preis versuchen, die zweite nicht auch noch zu verlieren, auch wenn sie ihre Entscheidung schon in den Findelhallen getroffen hatte.
“Wenn du nicht schon wie ein Skelett aussehen würdest, würde ich dir das Gehalt ganz streichen.”
Sollte heißen, er würde es nicht tun. Sie hätte dankbar sein sollen – aber sie sah, dass er das gar nicht erwartete. Er drehte ihr seine goldenen Schultern zu, und sie
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