Kaylin und das Reich des Schattens
gestorben. Und Severn hatte dort viel, viel Schlimmeres getan. Der Wunsch, ihn umzubringen, lähmte sie. Er war an einen bitteren Drang nach Gerechtigkeit gebunden – und nur Dummköpfe erwarteten in den Kolonien Gerechtigkeit.
Hier hat man Todesfälle gemeldet, die ihr untersuchen sollt. Weitere Informationen folgen.
Der Kristall vibrierte in ihrer Hand und wurde fast zu heiß, um ihn noch zu halten. Sie hielt ihn dennoch fest, als ihr Blick auf einmal verschwamm.
Sie stand auf dem Boden. Der Geruch der Straßen erfüllte ihre Sinne, und seine furchtbare Vertrautheit überwältigte sie. Sie stolperte, fiel, stand auf, sie sah hinab und merkte, dass ihre Tunika – sie kannte das Kleidungsstück nicht, es gehörte einem Mann – rot von Blut war.
Sie spürte keinen Schmerz, aber sie wusste, dass diese Erinnerung den Tha’alani zu verdanken war, und sie hasste es. Die Aufzeichnungen waren vollkommen anders als die Beobachtungen des Falkenlords, die aus der Ferne geschehen waren; die Erinnerung war voller Angst, Schmerz und der Unfähigkeit, beides hinzunehmen oder zu verweigern.
Sie stolperte durch die Straßen. Ihre Arme schmerzten, sie trug irgendetwas darin. Nein,
er
tat es, wer auch immer er war. Er stolperte durch die belebten Straßen. Die Sonne stand hoch am Himmel. Einige Menschen beobachteten ihn aus der Ferne, ihre offene Neugierde vermischt mit Furcht auf den – Gott sei Dank – unbekannten Gesichtern. Niemand kam näher. Niemand bot an, ihm mit der Last, die er trug, zu helfen. Und als seine Kraft schließlich versagte, als seine Knie nachgaben, als seine Arme sich mit einem Beben, das von Zeit und Anstrengung sprach, lösten, sah sie warum. Sie sah es durch seine Augen.
Der Körper eines Menschen rollte hinab in seinen Schoß, blutbeschmiert, leblos.
Er schrie. Einen Namen, immer und immer wieder, als wäre der Name eine Beschwörung, als ob er die Macht innehätte, das Leben zu zwingen, zurückzukehren.
Aber jetzt, wo sie als Falke zusah, als jemand, der gelernt hatte, was der Tod war, und was seine Ursachen, wusste Kaylin, dass es umsonst war.
Der Junge – zehn Jahre alt, vielleicht zwölf – war ausgeweidet worden. Seine Arme hingen schlaff an seinen Seiten hinunter, und sie konnte die schwarzen Tätowierungen sehen, die von Handgelenk bis Ellenbogen unauslöschlich in sein Fleisch gestochen worden waren.
Sie hatte so etwas schon einmal gesehen. Sie wusste, dass die Male nicht nur auf seinen Armen sein würden, sondern auch auf seinen inneren Schenkeln.
Sie schrie.
Und Severn schrie kurz nach ihr, als sie ohne zu wissen wie, den Kontakt mit dem Kristall verlor.
Ihre Handflächen warfen Blasen, und entlang der Kanten des harten Kristalls war ihre Haut aufgerissen. Severns ebenfalls. Er ließ den Kristall sofort fallen, und er schlug mit einem dumpfen Ton auf der Holzoberfläche auf, wo er sich festsaugte.
Sie hätte gedacht, er würde wegrollen.
Was für ein dummer Gedanke.
“Was machst du denn?”, schrie sie Severn durch zusammengebissene Zähne an. Ihre schmerzenden Hände verhinderten klare Gedanken.
“Dir den Kristall wegnehmen”, knurrte er zurück. Für den Augenblick hatte er seine Selbstbeherrschung vergessen.
“Warum?”
Er zuckte mit den Schultern und schüttelte sich dann. “Dir hat nicht gefallen, was du gesehen hast”, fügte er ruhig hinzu.
“Und das ist wichtig?”
“Ja.”
“Warum?”
Er antwortete nicht.
“Das war mutig”, sagte Tiamaris, der zum ersten Mal seine Stimme erhob. “Und sehr, sehr dumm. Der Falkenlord muss sich einige Mühe gemacht haben, diesen Kristall zu erschaffen. Er ist … offensichtlich ungewöhnlich. Kaylin?”
Sie schüttelte den Kopf. Im Grunde schüttelte sie sich einfach nur. Sie wollte den Kristall noch einmal berühren, und gleichzeitig wollte sie ihn zerstören. Zwischen den zwei Möglichkeiten hin und her gerissen – die eine zwingend notwendig, die andere unmöglich – war sie wie versteinert.
Tiamaris blieb ruhig. “Ich stehe in deiner Schuld.” Er sprach die Worte sehr ernst. Seine Augen waren von Rot zu Gold geworden, Gold wie flüssiges Licht.
“Schuld?”
“Ich hätte den Kristall selbst genommen. Es wäre … unbesonnen gewesen. Es scheint, als hättest du das Vertrauen des Falkenlords, Kaylin. Und es scheint auch”, sagte er, mit dem leisesten Anflug eines düsteren Lächelns, “dass dieses Vertrauen sich nicht auf seine neuesten Rekruten ausdehnt.”
Severn weigerte sich, in das Gespräch
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