Kaylin und das Reich des Schattens
sich selbst wanden wie Schlangen oder Reben, wie etwas Lebendiges. Er war genau wie und vollkommen anders als die Symbole auf der Decke und dem Boden des Siegelzimmers. Genau wie und vollkommen anders als ihr Gespräch mit dem Alten.
Er war Teil von ihr, wie die Zeichen ein Teil von ihr waren. Er war eine Brücke zwischen dem, was sie im Turm der Falken gelernt hatte, und dem, was ihr ohne ihr Wissen in ihrer Kindheit verliehen worden war. Ein Schlüssel.
Eine Gabe.
Sie riss die Augen auf.
Lord Nightshades Augen waren so groß, wie sie sie noch nie gesehen hatte, und blau, ein kristallenes Blau, eine Farbe, die für Barrani viel zu blass war. Sie hatte ihn gefürchtet, hatte ihn immer gefürchtet. Er war ein Schatten gewesen. Der Koloniallord. Ein weiterer Tod.
Doch für einen Augenblick sah sie klar. Er war der Tod, ja, aber er war nicht tot, er war noch mehr.
“Du hast gelogen”, flüsterte sie.
Er lächelte. “Die Wahrheit liegt, wie die Schönheit, im Auge des Betrachters.”
“Das verstehe ich nicht”, sagte sie und wollte fast den Kopf schütteln. Es gelang ihr nicht, ihr Gesicht ausdruckslos erscheinen zu lassen. “Dein Name – du hast ihn mir geschenkt. Du musstest es nicht tun.”
“Du siehst viel”, sagte er, “das ich lieber vor dir verborgen hätte. Ja, Kaylin. Ich hätte dich damals aus dem Siegel befreien könne, ohne dir zu gewähren, was ich seit Jahrhunderten keinem meiner Art gewährt habe.”
“Aber … es ist dein
Name
. Ich verstehe das nicht.”
“Das musst du auch nicht”, antwortete er. “Verständnis ist das Ende der Reise. Komm, Kaylin. Finde, was ich nicht finden kann.” Er hob eine Hand und berührte das Zeichen, das er auf ihre Wange gebrannt hatte. “Du hast dafür bezahlt. Du trägst meinen Namen, und du trägst mein Zeichen. Ich habe dir etwas geschenkt, doch ich bin Barrani – ich habe im Gegenzug auch etwas genommen.”
Sie hätte zurückschrecken können; sie tat es nicht. Die Spitzen seiner Finger waren warm, und sein Gesichtsausdruck war – fast – sanft.
“Zeit, Kaylin”, sagte er zu ihr und senkte seine Hand.
Alles was ihr blieb, war sein Name in der Stille.
Seiner und alle Namen der Macht, die auf sie geschrieben waren, wieder und wieder, wie Fluch oder Segen.
“Ja”, sagte er leise. “Es sind Namen. Einige hätte ich früher vielleicht erkannt, wären sie mir geschenkt worden. Es sind die Namen der Toten”, fügte er hinzu, als ihre Augen größer wurden. “Aber nicht nur die. Hier stehen ebenfalls – glaube ich – die Namen derer, die schlafen – Licht und Dunkel, Gesetz und Chaos. Todesmagie”, fügte er leise hinzu und blickte zu Tiamaris. “Hast du es ihr nicht gesagt?”
“Es war nicht notwendig.”
“Wissen ist Macht.”
“Wenn man es beschützen kann, ja. Sonst ist es nur Tod.”
“Gewinnt man nicht Macht, indem man tötet?”
Er lachte. “Dann wäre alle Macht in Elantra Todesmagie. Nein, Kaylin. Es ist … mehr als das. Die Namen, die dort in einer Sprache, die nicht einmal ich lesen kann, geschrieben stehen, haben keine Macht über die Lebenden. Sie hatten sie einst. Aber sie wurden überworfen. Zeit unserer Geschichte haben wir mit der Natur der Namen gerungen – sie waren unsere einzige Schwäche, unsere einzige Verwundbarkeit. Von dem, was wir in diesem uralten Kampf gelernt haben, sprechen wir nicht offen, und du wirst es auch nicht tun. Aber es gibt jene, die ihre Namen verloren haben, und ihnen bleibt nur die Fähigkeit, die Macht, die in ihnen liegt, anzurufen.”
Sie schüttelte den Kopf. Einen Augenblick lang fühlte sie sich, als würde sie wieder in einer Magieklasse festsitzen. Nur war die hier nicht theoretisch.
“Die Toten wissen nicht, was sie auf ihre Opfer schreiben”, sagte er leise. “Sie wissen nur, dass es ihnen für kurze Zeit Macht verleiht. Für uns sind sie verloren. Sie haben die Gerissenheit und die Intelligenz unserer Art, aber sie sind wie Tiere. Und sie sind frei. Mein Name”, fügte er hinzu, “ist eine Bindung. Du kannst ihn sehen.
Sehen. Aber du musst verstehen, dass er mehr ist – und auch weniger –, als deine Augen daraus machen. Sprich ihn nicht aus.”
Das musste sie nicht. Sie wusste, dass sie ihn nicht wirklich kannte. Aber ein Teil von ihr hatte geglaubt, dass sie ihn verstand, wie sie jeden Barrani verstand, der nicht den Falken auf der Brust trug. Jetzt wusste sie, dass sie es nicht tat. Er hatte ihr etwas gegeben, das sie mit Gewalt oder Drohungen nicht
Weitere Kostenlose Bücher