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Kaylin und das Reich des Schattens

Kaylin und das Reich des Schattens

Titel: Kaylin und das Reich des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Sagara
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Warum malen Maler? Warum singen Sänger? Warum schreiben Schreiber? Es ist der Impuls, etwas zu erschaffen.”
    “Und zu zerstören.”
    “Ja.”
    “Sind sie so anders?”
    “Die Frage hätte ich von einem Barrani erwartet.” Die Antwort des Drachen war kühl. So wie Feuer kühl war.
    “Warum brauchten sie Sprache?”
    “Wie bitte?”
    Sie schüttelte den Kopf. “Die hier”, sagte sie und hob ihre Arme, “sind Wörter. Das hast du gesagt. Es sind ihre Wörter. Aber – aber sie klingen so mächtig. Du hast gesagt, man kann ihre Wörter nicht einmal in Sicherheit studieren. Dass Magier daran gestorben sind.”
    “Ja.” Er schmälerte seine Augen. Dann streckte er die Hand aus und ließ seine Handfläche über ihrer Haut schweben, ohne sie zu berühren, als sei sie ein ebenso gefährliches Artefakt wie die, die diese Magier umgebracht hatten.
    “Warum haben sie Worte gebraucht?”
    “Warum braucht jedes denkende Wesen Sprache?” Er zog seine Hand zurück. “Du warst wahrscheinlich nicht die beste Schülerin, Kaylin. Aber du hast dennoch gelernt, Barrani zu sprechen. Du hast Leontinisch gelernt, weil es dich Hauptmann Kassan näher gebracht hat. Du bist bei fast allem anderen –”
    “Durchgefallen. Weiß ich schon.”
    “Warum konntest du dann die Sprachen lernen?”
    Weil sie keine andere Wahl gehabt hatte. Sie konnte kein Falke werden, ohne sie zu lernen. Und sie
musste
ein Falke werden. Sie setzte zu dieser Erklärung an, aber sie stimmte nicht ganz. Sie hatte eine gewisse Gabe für Sprachen. Wenigstens verglichen mit ihrer Begabung für jede andere akademische Sparte. Die Erinnerung mischte sich ein, wie so oft. “Es war … etwas, was der Falkenlord gesagt hat. Als ich ihm erzählt habe, dass ich Barrani hasse.”
    “Was hat er gesagt?”
    “Dass Sprache gleichzeitig ein Fenster und eine Wand ist, und wenn ich die Worte kenne, kann ich mich entscheiden, welches es sein soll. Ohne sie hätte ich nichts – keine Möglichkeit, zu –”
    Verstehen.
    “Worte sind Macht”, sagte sie leise und wiederholte Lord Grammayres ferne Worte, als hätte er sie gerade erst gesprochen, als würde sie ihn immer hören. Und sie schloss ihre Hände und ließ die Leitungen und Lebenslinien im Abgrund verschwinden. Sie starrte ihre Arme an. “Du kannst Teile davon lesen.”
    “Wenige. Aber Kaylin, ich spreche sie nicht. Niemand unter den Lebenden kann das. Wir kennen die Laute nicht, die diese Formen abbilden, falls es sie überhaupt gegeben hat. Wir können die Bedeutung erraten, aber es ist immer wie ein Gang durch die Dunkelheit.”
    Die Dunkelheit.
    “Ich habe Leontinisch gelernt”, sagte sie. “Du hast recht. Ich habe es wegen Marcus gelernt, weil es ein Teil von ihm ist. Und Aerianisch. Das habe ich auch gelernt. Nicht für den Falkenlord. Sondern für Clint. Weil es ihm so gefallen hat, wie ich es
versuche
.” Auch diese Erinnerungen stürmten auf sie ein, und sie klammerte sich daran fest.
    “Ich habe mit dem Alten gesprochen”, fügte sie leise hinzu.
    Sie alle erstarrten.
    “Aber ich habe keine Wörter benutzt. Das konnte ich nicht. Ich habe gesprochen, und er hat verstanden, auch wenn ich die Bedeutungen nicht in irgendwelche Behälter gequetscht habe.”
    Zögernd fuhr sie die Zeichen und ihre Ränder in den Abgründen ihrer Erinnerung nach und begann ebenfalls, durch die Dunkelheit zu gehen.
    Sie hörte Lord Nightshades schneidenden Atem, sah, wie sich das Licht in seinem Haar fing, als er sich bewegte und wieder bewegte, immer auf der Stelle. Er drehte sich um sich selbst, während die Oberfläche des silbernen Spiegels, die perfekte Landkarte, sich veränderte.
    Er drehte sich plötzlich zu ihr um und streckte seine Arme aus. Sie ahmte seine Geste nach und zeigte so deutlich, wie sehr es ihr an Kraft und Eleganz mangelte. Ihr zugewandt, in der gleichen Haltung, wartete er ab. Seine Augen waren so grün wie das Herz des dunkelsten aller Smaragde.
    Und dann lächelte er und deutete auf sie. “Kaylin Neya”, flüsterte er. Sie spürte jede Silbe. Ohne es zu wollen, formten ihre Lippen eine Antwort, aber sie sprach nicht laut. Das musste sie nicht.
    Sein Name hing zwischen ihnen in der Luft, war Fenster und Wand zugleich, und sein Muster – sie konnte es berühren, ohne ihm Stimme zu geben, ihn anrufen, ohne dazu Silben zu benutzen. Er war genau wie und vollkommen anders als die Zeichen auf ihren Armen, schlank und verschlungen, wo ihre Zeichen grob, einfach und klar waren, wo sie sich um

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