Kaylin und das Reich des Schattens
einer sein halbes Gesicht. Blut spritzte, rot, lebendig. Sie konnte sehen, wie es zu einer Lache zusammenfloss, und die Linien, in denen es floss, waren … Worte. Uralte Symbole.
Der Mann in der Rüstung ließ sein Visier zuschnappen und winkelte sein großes Schwert an. Er setzte sich in Bewegung, und wenn auch die Barrani durch die seltsame Leere, die ihr Tod war, verlangsamt wurden, diese Kreatur mit den goldenen Augen, die in der Dunkelheit hell leuchteten, wurde es nicht.
Er ging in großen Schritten auf Severn zu, während Severns Füße auf die blutigen Runen traten. Severn würde hier sterben. Endlich würde er doch sterben.
Der Gedanke kam aus der Ferne.
Die mit Blut geschriebenen Buchstaben schienen näher zu sein, irgendwie waren sie wirklicher geworden. Sie betrachtete sie, und ihre Lippen bewegten sich, und sie spürte die Zufriedenheit des Mannes in der Rüstung, als er sein Schwert in einem flachen Bogen schwang, fast zu schnell, um ihn mit bloßem Auge zu erkennen.
Sie öffnete die Lippen.
Und sprach.
Aber die Worte, die sie sprach, standen nicht dort zu ihren Füßen geschrieben, sie waren in ihr geschrieben, unter ihrer Haut.
Calarnenne.
Kaylin.
Sie sprach seinen Namen noch einmal. Die Stärke des Begehrens wurde dadurch zersplittert, verändert. Kaylin zwang sie in die einzige Bahn, die sie benutzen könnte. Sie war von zu vielen Worten gefesselt, und keine davon ihre eigenen. Und gleichzeitig doch alle von ihnen.
Und dann fand Kaylin Neya ihre Flügel. Sie schrie einen Namen, einen anderen Namen, als sie sich in die Lüfte schwang.
Es war der Name des Falkenlords.
Kaylin Neya weinte, forderte ihren Luftraum ein, traf ihre Entscheidung und wendete sich dann zu Severn, dem einzigen Bodenfalken hier, der seinem Tod gegenüberstand.
Der Tod hörte sie und hob seinen Kopf. Sein Schwert fing die Kette, oder die Kette fing das Schwert und hielt es gefangen. Sie schrie Severn in dem gebrochenen Elantranisch, das die Kinder der Kolonien sprachen, eine Warnung zu, und Severn gab seiner Kette einen verzweifelten Ruck.
Das Schwert fiel.
Aber es war kein Triumph.
Die Waffe war nur ein Anhängsel. Unwichtig. Der Mann in der Rüstung
brüllte.
Und in dem beengten Raum des großen Innenhofs begann er sich zu verwandeln. Er streifte die Schwäche seiner Arme und Beine ab.
Schwarze Flügel entfalteten sich aus seinem Rücken, und Klauen fuhren aus seinen gepanzerten Fäusten – und erst dann, denn sie war immer noch Kaylin, merkte sie, warum die Rüstung ihr so bekannt vorgekommen war: Sie hatte schon einmal eine ähnliche gesehen, nur waren ihre Farbe und Form so anders gewesen, dass sie nicht erkannt hatte, was sie vor sich sah.
Die Schuppen eines Drachen.
20. KAPITEL
K
aylin.
Sie antwortete nicht. Hätte nicht die Zeit gehabt, das Geräusch zu verarbeiten, wäre es von außerhalb gekommen, wie Geräusche es normalerweise tun. Sie hatte
knapp
genug Zeit, sich auf Severn zu werfen, mit genug Gewicht dahinter, um ihn aus der Reichweite des plötzlich hervorbrechenden Kiefers des Drachen zu schieben. Sie traute ihm zu, zu überleben, wie sie es niemandem außer Teela oder Tain zugetraut hätte. Er war bereits in Stellung und hatte sich unter Kontrolle gebracht, ehe sie angehalten hatte.
Die Aufmerksamkeit des Drachen war immer noch auf sie gerichtet.
“Lass sie gehen”, forderte sie von ihm, angespannt und nahe am Boden. Ihre Stimme war wie die des Drachen ein Brüllen, ein innerer Sturm. Es hätte sie überraschen sollen.
Seine großen Augen waren orange, nicht von Lidern bedeckt und so groß wie ihre Faust. Sein Atem war rot und reichte viel weiter als seine Zunge. Sie stand dem Feuer im Weg, aber als es sie traf, teilte es sich wie Wasser. Oder Asche. Wo es an ihr vorbeizog, hinterließ es Dunkelheit.
Als sie vortrat, tat sie das Gleiche. Es hätte schwer sein sollen, seine Dunkelheit von ihrer zu trennen. Das war es nicht. Sie ging in die Hocke und streckte sich nach dem Blut aus, das Severn vergossen hatte. Wo sie es berührte, begann es ebenfalls zu brennen. Diese Flammen waren schwarz mit blauen Herzen. Leder knarrte unter ihren Füßen. Sie tat ihr Bestes, nicht in das Feuer zu treten.
“So”, sagte der Drache. “Du bist immer noch
sterblich
.” Das Wort wurde mit Verachtung ausgespuckt, mit einem Totenkranz aus Rauch und Glut. “Glaubst du, du kannst die Macht in dir
nutzen
? Dummkopf. Sie wird dich verschlingen.”
Sie verstand alles, was er sagte, und wusste doch,
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