Kaylin und das Reich des Schattens
vom Himmel war verschwunden, sie fragte sich, ob man diese Flammen so leicht löschen konnte, wie sie aufgelodert waren. In so einem Feuer konnte ein ganzer Häuserblock verzehrt werden.
Denk nach, Kaylin. Denk nach.
Dolch in der Hand. Schmutzstraße unter den Füßen. Neben ihr, für einen Augenblick, ein Gebäude. Sie war so konzentriert, dass sie die toten Barrani, die auf sie zukamen, nur durch einen Tunnelblick wahrnahm. Und sie standen nicht dem Drachen gegenüber, sondern dem Koloniallord. Sie hatte es immer seltsam gefunden, dass das Blut der Barrani so rot sein konnte, alles andere an ihnen war so anders. Sie lebten ewig. Sie hätten Gold bluten sollen, oder etwas ähnliches.
“Kaylin.”
“Ich habe einen Mann umgebracht”, sagte sie zu Severn. Sie sprach, als wäre sie die Stimme des Archivs und nicht Kaylin Neya. “Ich habe ihn angefasst.” Sie gelangten wieder an die Seite eines Gebäudes. Das dritte. Sie stieg über einen Arm und grub ihren Absatz in die Ellenbeuge, als sie sah, dass er sich noch bewegte.
Er zuckte mit den Schultern und versuchte, es herunterzuspielen. “Du hast mehr als einen umgebracht”, sagte er. “Wenn unsere Aufzeichnungen stimmen.”
“Er hat sich aufgelöst. Das Wort haben sie damals benutzt. Ich habe ihn angefasst. Er ist einfach … zerbröckelt. Von innen heraus. Es war wie schwarzes Feuer”, fügte sie hinzu. “Ich konnte es fühlen.”
Und das tat sie.
“Und die anderen drei – die habe ich auch umgebracht. Ehe Teela es tun konnte. Ihre – ihre Haut ist einfach geschmolzen. Sonst nichts. Nur ihre Haut. Weil der Erste nicht
genug
gelitten hatte.”
Er war neben ihr. Verließ nie ihre Seite. Und sie konnte ihn jetzt kaum noch sehen, sie konnte nur noch die schwarze Dunkelheit fühlen und schmecken und hören. Nein, dachte sie,
nein
. Sie würde nicht den Verstand verlieren.
“Das war der Kinderprostitutionsring”, sagte er. Seine Worte waren kristallklar, ohne die Finsternis, die ihre Stimme einhüllte. “Die wären sowieso gestorben. Sie hätten nicht überlebt. Es hat keinen Unterschied gemacht.”
Das stimmte.
Und auch wieder nicht. Und die Falken hatten es akzeptiert, aber nur knapp, und nur weil ihre Berührung nicht immer den Tod brachte. Sie hatte danach große Angst gehabt.
Aber nicht damals. Nicht jetzt.
Nein, das stimmte nicht. Jetzt hatte sie Angst. Weil die Kinder dort waren, irgendwo da drin, und sie war noch nicht bei ihnen. Dort war eine andere Art Dunkelheit, und sie konnte sie fast fühlen. Fast … berühren.
Nein.
Das Wort, das sie aussprach, war ein anderes.
An dem Tag war sie mit Teela und Tain unterwegs gewesen, zu etwas, was Teela eine Routineoperation genannt hatte. Sie fragte sich oft, was mit ihr passiert wäre, wenn irgendjemand anders bei ihr gewesen wäre. Teela und Tain waren nicht einmal zusammengezuckt, als die Männer schreiend verendet waren. Und
wie
sie geschrien hatten. Teela hatte nur irgendwie mit den Schultern gezuckt, als hätte sie das alles schon gesehen, als wäre es nur noch ein weiterer Toter.
Tain hatte immerhin etwas gesagt. “Du wäschst dich lieber – ordentlich – ehe wir in die Hallen zurückgehen.”
“Kaylin?” Severns Stimme holte sie zurück. “Das ist dir
einmal
passiert.”
“Ja.”
“Nicht zweimal.”
“Nein.”
“Warum?”
Wie sollte sie das erklären?
Weil die Kinder, die sie damals gerettet hatte, sie angesehen hatten, als wäre sie
noch schlimmer
. Als wäre sie noch böser als die Männer, die sie umgebracht hatte. Und eine noch größere Gefahr. Und da erst war ihr aufgegangen, dass einige der Schreie – die meisten – nicht die Schreie der Sterbenden gewesen waren. Doch während sie getötet hatte, war ihr das egal gewesen.
“Du wusstest es.”
“Der Wolflord wusste es”, sagte er und knurrte, als die Absperrung sich löste und das Fenster – falls man es so nennen konnte – wartete.
“Wie?”
Severns Schweigen war seine einzige Antwort.
“Und er hat es dir gesagt?”
Severn hob eine Augenbraue. Antwort genug.
“Es ist dir egal.”
“Nein. Das nicht. Aber ich war ein Schattenwolf, Kaylin.”
“Willst du schmutzige Geheimnisse austauschen?” Sie versuchte zu lächeln, als die Absperrung sich senkte.
Er faltete seine Finger und kniete sich hin. Sie setzte einen Fuß in den Steigbügel, den er mit seinen Händen gebildet hatte. Doch er sah zu ihr auf. Sein Lächeln war blass, scharf und ohne jede Freude. “Du kennst meine schlimmsten
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