Kaylin und das Reich des Schattens
Dunkelheit. Wir heißen dich willkommen an diesem, dem ersten Tag deiner Geburt. Wir haben lange gewartet.
Er war wunderschön. Verlockend. Die Zeit prallte an ihm ab, ohne ein Zeichen zu hinterlassen, als wäre er darüber erhaben.
Ihre Arme kribbelten. Ihre Beine. Die Haut auf ihrem Rücken und unter ihrer Brust. Alle Zeichen, alle Markierungen, die sie jetzt kannte, waren wie verborgene Namen der Macht, unsterblich und unverändert.
Nein, nicht unverändert. Fast gegen ihren Willen hob sie ihre Hand – die Hand, in der sie keinen Dolch trug, die Hand, die immer noch schwarz gefärbt war von der Asche der Tür. Ihre Nägel waren schwarz. Ihre Finger schlossen sich langsam, wie um eine Form, die sie kaum sehen konnte.
Wie um den Saum der Nacht.
Severn blieb nur einen Schritt hinter ihr stehen. Sie hörte, wie er scharf einatmete, als wäre es der einzige Atemzug, der außerhalb dieser selbst bestimmten Nacht getan wurde. Sie hörte, wie er zwei Worte sprach.
Musste sich anstrengen, um sie zu verstehen. In ihnen lag keine Macht, keine Verlockung, nichts von der Schönheit des Fremden, dem sie sich jetzt gegenübersah.
“Die Kinder.”
Das Bild vor ihren Augen verzerrte sich, ihr stiegen Tränen in die Augen, die Zeichen auf fast ihrem ganzen Körper zogen sich nach innen und zerrten an der Haut, auf der sie aufgebracht waren.
Versteckt, unwichtig, waren die Kinder zwischen den stummen Barrani verstreut. Sie hatten keine Macht. Sie würden nie Macht haben. Dünn, hager und ungelenk irrten sie umher wie – wie Vieh, das wusste, dass die Schlachtbank wartete.
Ihre kleinen blassen Münder standen offen, ihre Augen waren weit aufgesperrt, sie waren bedeckt von Schmutz, von blauen Flecken, ihre Gesichter von Tränen verschmiert. Sie waren weiß, weiß vor Angst. Und sie
hatte sie nicht gesehen
, bis Severn von ihnen gesprochen hatte.
Der Schreck musste auf ihrem Gesicht zu lesen sein, denn die Veränderung wurde von dem Gesicht des Fremden in der Rüstung widergespiegelt.
Du bist zu früh
, sagte er.
Und viel, viel zu spät.
Und er lächelte, und das Lächeln war schön; es war ein Versprechen.
Du sorgst dich um sie?
Sie konnte nicht antworten. Ihr Körper war jetzt steif, verkrampft, ihre Glieder mussten erst wieder lernen, was es hieß, sich zu bewegen.
Sie müssen sowieso sterben, Tochter. Sie sterben jeden Tag. Gib ihnen dein ganzes Leben, und du verschwendest doch nur Zeit; du kannst sie nicht mehr retten.
Aber sie können
dich
noch retten. Du bist auserwählt, ohne dass du die Wahl gehabt hättest. Sie sind Meister der Gesetze, und wie alle Meister der Gesetze in dieser Stadt dienen sie nur ihren eigenen Interessen.
Wir haben dir die Wahl gelassen
, fügte er hinzu, und das Flüstern seiner Stimme erfüllte sie, als wäre sie in Wahrheit nur eine Hülle. Die Zeichen auf ihrem Körper entspannten sich, ihre Haut glättete sich.
Wir verheißen dir Macht.
Mit Macht kannst du tun, was du willst.
Das stimmte. Das
alles
stimmte.
Du bist dein ganzes Leben lang hilflos gewesen.
Er zeigte auf etwas. Sie sah einen Jungen – einen fremden Jungen, der neben den Barrani und neben der seltsamen schwarzen Schönheit, die den Rest einhüllte, wie ein Zwerg erschien. Mit offenem Mund, als würde er vollkommen stumm schreien, wurde er auf eine erhabene Steinplatte gelegt.
Die Zeichen an ihrem Körper waren ein Teil von ihr, und ihr ganzes Wesen sah stumm fasziniert zu. Sie spürte, wie eine Wärme sie erfasste, die sie noch niemals gespürt hatte. Verlangen? Ja. Das ursprünglichste Verlangen. Ihr Mund war trocken.
Sie fuhr mit der Zunge über ihre Lippen.
Schmeckte Blut.
Blut? Sie legte ihre Finger an ihre Wange und spürte das eine Zeichen an ihr, das nicht von den Toten und den Sterbenden beeinflusst wurde, das kein Teil war von ihrem Zauber und ihrer Verlockung.
Es blutete.
Der Mann in der Rüstung legte die Stirn in Falten.
Zwei Dinge geschahen. Severn, aufrecht und stumm, verließ plötzlich ihre Rückendeckung und sprang neben sie. Er war das einzige Licht auf dem ganzen Innenhof. Seine Kette war voll ausgespannt, drehte sich, und in ihren Gliedern fing sich etwas, das in ihrem Blickfeld nicht existierte: Das Licht der untergehenden Sonne.
Er rief nicht nach ihr. Aber als er an ihr vorbeisprang, sah sie, wie etwas anderes das Licht der Sonne einfing, und damit auch ihre Aufmerksamkeit: Der Falke auf seiner Brust. Sein kurzer Flug.
Die Barrani verstreuten sich nicht. Einige verloren Gliedmaßen,
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