Kaylin und das Reich des Schattens
bereits”, flüsterte er.
Ehe sie antworten konnte, hob er sie hoch, und sie beugte die Knie und legte ihr gesamtes Gewicht hinter den Sprung, als das Glas und die dünnen Holzstreifen, die es an Ort und Stelle hielten, zerbarsten.
Sie rollte sich ab und war froh über ihre Stiefel. Es war dunkel in dem leeren, kleinen Zimmer. Kein Sonnenstrahl fiel durch das klaffende Loch, das sie hinterlassen hatte, kein Licht. Sie hörte Severn hinter sich landen. Und verfluchte ihn, er war viel leichtfüßiger, als sie es gewesen war, obwohl er viel mehr wog.
“Es gibt einen Innenhof”, sagte er.
Sie runzelte die Stirn. “Hast du ihn gesehen?”
Er schüttelte den Kopf. “Die Gebäude auf der Culvert sind einfach alt genug.”
“Und du meinst, da sind sie?”
“Woanders können sie nicht sein.”
“Warum?”
“Der Wachturm”, antwortete er und sah an ihr vorbei zur geschlossenen Tür. Er bedeutete ihr, zur Seite zu gehen, und stellte sich selbst direkt neben die Scharniere. “Dort sind sie im Erdgeschoss geblieben.”
“Sie könnten im Keller sein.”
“Culvert Street hat keine Keller. Und die Zimmer hier – zu klein.”
Nicht zum Leben, nur zum Sterben.
Sie grunzte, weil er sie nicht nicken sehen konnte, denn er beobachtete den Spalt in der Tür. Hielt Ausschau nach Licht, dachte sie. Nach Bewegung.
Die Tür flog auf, als er hart daran zog.
Sie war auf dem Korridor und hatte die Dolche gezogen, ehe die Tür wieder zugefallen war. Hier war niemand. Nur ein langer Korridor, der in eine Richtung zur Schlacht und in die andere zu einer geschlossenen Tür führte. Sie konnte nur diese Tür sehen, alles andere lag im Schatten.
Severn konnte seine Kette im schmalen Flur nicht benutzen. Aber er zog die Klinge zu sich heran und behielt sie in der Hand. Der Griff war gerade lang genug, der Dorn nur angedeutet. Keine Waffe, die sie je in einem Kampf benutzen könnte, ohne ihre eigenen Finger zu verlieren.
Sie konnte die Klinge deutlicher sehen als Severn. Er kam auf sie zu. “Fass mich nicht an”, sagte sie leise. Es war keine Drohung. Jedenfalls war es nicht so gemeint.
Er nahm sie hin, wie er alle Warnungen hinnahm.
Sie begann den Korridor hinabzurennen, angezogen von der Tür am anderen Ende. Sie wusste, dass sie gegen die Vorschriften verstieß. Wusste es, konnte sich aber selbst nicht aufhalten. Ihre Hände zitterten.
Sie schob einen Dolch zurück in seine Hülle, als sie die Tür erreicht hatte. Es war eine Holztür – nichts in diesem Gebäude war aus etwas anderem als Holz gemacht –, vielleicht drei Zentimeter tief. Sie legte ihre flache Hand auf die Oberfläche. Spürte, wie sie unter ihrer Hand vibrierte.
Sie löste sich unter ihrer Hand zu einem Hauch schwarzer Asche auf, beginnend an den Rändern der Türrahmen. Als sich der Schleier legte, hätte Sonnenlicht hineinscheinen sollen. Dahinter befanden sich Stufen – drei flache Stufen –, die hinab in einen kargen Innenhof führten, der auf jeder Seite von den hinteren Fassaden der umstehenden Gebäude begrenzt war. Darin befanden sich Fenster, es musste Fenster geben. Sie konnte sie nicht sehen.
Sie konnte Nacht sehen, mondlos, dunkel, geballt im Herzen des Innenhofs. In ihren Falten sah sie, wie Männer sich bewegten. Männer in Umhängen, groß und anmutig und vollkommen ruhig.
Alle bis auf einen.
Er trug eine dunkle Rüstung, einen Helm, der sein Gesicht verbarg und ein Schwert, das zu allem an ihm passte: Es war reich verziert und die Klinge fast gewellt. An beiden Seiten, mehrere Fußlängen, mehr als einen Meter lang. Ein großartiges Schwert. Es warf kein Licht zurück; hier gab es kein Licht.
Doch er hob es, die Spitze gen Himmel wie zu einem Salut, und dann drehte er sich zu ihr um. Er hob seine gepanzerte Hand und öffnete das Visier seines antiken Helms. Die Rüstung war Kaylin vertraut, auch wenn sie nicht sagen konnte, warum.
Sie hatte gedacht, sie würde jemanden wie Lord Nightshade in diesem eleganten, mächtigen Mann sehen. Und es lag auch eine gewisse Ähnlichkeit in den langen Konturen seines Gesichts, aber es war kein schlankes Gesicht, kein Barrani.
Kein sterbliches Gesicht.
Goldene Augen, rund und ohne Lider, sahen in ihre, als der Fremde lächelte. Er hob seine freie Hand wie zum Gruß und senkte sie mit der Handfläche nach oben. Die Glieder seines Kettenhemdes machten kein Geräusch, als seine langen Finger sich streckten.
Tochter
, sagte er, auch wenn seine Lippen sich nicht bewegten.
Tochter der
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