Kaylin und das Reich des Schattens
grimmig. Er wechselte zu Barrani. “Der Falkenlord erwartet eure Anwesenheit bei der Nachbesprechung.”
Sie nickte; mehr Gehorsam verlangte er nicht. Wäre es nötig gewesen, hätte sie auch getanzt oder Purzelbäume geschlagen, wenn auch nicht ohne Schmerzen. Dann sah sie ebenfalls gen Osten, zu dem Knoten aus verlorenen Kindern, die dort stumm warteten, eine steinerne Stille, die ihre Träume noch jahrzehntelang heimsuchen würde. Kaylins. Und die der Kinder.
“Was machen wir mit den Kindern?” Sie zählte sie, wie ein Falke zählte. Es waren zehn. Ein Junge, nackt, war mit Zeichen bedeckt, zwei Mädchen waren ebenfalls gezeichnet worden und bedeckten sich mit zitternden Händen. Sie versuchten, die Symbole zu verstecken, die auch Catti bedeckt hatten. Catti und über vierzig tote Kinder, deren Leichen in den Straßen von Nightshade zurückgeblieben waren. Sie wollte aufstehen, sich das lange, zerrissene Hemd ausziehen und es einem der Kinder geben. Aber sie konnte sich nicht bewegen.
Und was sie nicht tat, taten die Aerianer-Falken an ihrer Stelle. Die Kinder hatten Angst, und sie hätte ihnen gerne gesagt, dass das nicht nötig war. Bei diesen Männern waren sie in Sicherheit, bei diesen geflügelten Wesen, die so engelsgleich aussahen, dass sie – in diesem Augenblick – wie das Geschenk eines gnädigen Gottes schienen. Falls es so etwas gab.
“Wir werden uns jede Mühe geben, ihre Eltern zu finden”, sagte Severn zu ihr. Seine Stimme war leise, fast kleinlaut. Sie sah in sein Gesicht. Ihr Blick fiel in einem merkwürdigen Winkel darauf, sodass sein Kinn ihr am breitesten von allem erschien. Er hatte Blut verloren, genau wie Clint, und in ein paar Wochen würde ihn vielleicht eine weitere Narbe zieren.
Wegen der Armschiene fehlte ihr die Kraft, ihn zu heilen. Aber sie bat ihn auch nicht, ihr die Schiene abzunehmen. Ihre Edelsteine leuchteten immer noch, als würden sie ihr stumm Vorwürfe machen.
“Wie viele von ihnen werden wohl noch lebende Eltern haben?” In jedem Wort brodelte Bitterkeit. Sie dachte an die Frau neben dem alten Brunnen.
“Wenigstens eins”, antwortete er sanft. “Und die, die keine haben, bringen wir zu Marrin, Kaylin. Und Marrin wird sie als ihre eigenen annehmen.”
Sie dachte an die Leontinerin und fühlte sich seltsam getröstet. “Sie sind alt, für Findelkinder”, wendete sie ein, als er sich in Bewegung setzte. Und das waren sie wirklich, zwischen zehn und zwölf Jahren alt, schon im Schatten der Pubertät.
“Sie sind alt”, stimmte er ihr zu. Seine Worte wurden leiser. Sie konnte spüren, wie sie in seiner Brust grollten. “Aber sie werden überleben und noch älter werden.” Falls die Worte bitter waren – und das konnte gut sein – hielt sie sich nicht damit auf.
Sie ließ sich von ihm forttragen, fort von den Kindern, für die sie, wie Severn oft gesagt hatte, eine Schwäche hatte.
Nur war sie nicht schwach genug gewesen, sie alle umzubringen. Sie schloss ihre Augen; ihre Lider waren ohnehin schwer, und es gab nicht viel, was sie sehen wollte.
Doch ihre Augen schließen war nicht viel besser. Aus ihren Augenwinkeln tropfte etwas und lief die Kurve ihrer Wangen entlang. Es fühlte sich nicht wie Frieden an. Glücklicherweise blieb ihr ein Ausweg: Sie verlor langsam das Bewusstsein.
21. KAPITEL
S ie schlief drei Tage lang.
Wachte für ein paar Stunden auf, aß, was man ihr gab; meistens Grütze oder Brühe. Sie lag in einem vertrauten Zimmer, es war das gleiche, in dem sie vorher gelebt hatte. Der Spiegel schwieg. Jemand hatte ihn zugedeckt.
Nein, dachte sie, als sie für einen Augenblick den Schlaf abschüttelte.
Severn
hatte ihn zugedeckt.
Er tauchte kurz vor ihren Augen auf. Sie hatte sowohl Angst, ihn wieder zu sehen, als auch Angst, ihn nie wieder zu sehen, je nachdem, wie wach es ihr gelang zu werden. Sie ließ sich von ihm die ersten zwei Tage lang füttern, aber am dritten bestand sie darauf, den Löffel selbst in die Hand zu nehmen, und er setzte sich geduckt auf den einzigen Stuhl, den sie besaß, und starrte aus dem Fenster. Oder er starrte ihr Spiegelbild darin an.
Severn war nicht der Einzige, den sie zu sehen bekam. Teela und Tain kamen über ihre Schwelle, und einmal, als sie aufwachte, hatte Teela sich wie eine besorgte Katze auf ihrem Fußende zusammengerollt. Clint kam zu Besuch und brachte sein Baby mit. Er entschuldigte sich, weil das Baby nicht gerade leise war. Sie wollte ihm sagen, dass ihr die Tränen nichts ausmachten
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