Kaylin und das Reich des Schattens
er hält es sogar für außerordentlich wichtig, dass wir es nicht tun.”
“Und das lässt darauf schließen, dass wir mit Erlaubnis des Koloniallords hier sind.”
“Nicht, dass es sein Recht wäre, so eine Erlaubnis auszusprechen, aber doch, das glaube ich.”
Sie dachte gründlich über seine Worte nach. Erst danach blickte sie zu Severn. Der nickte. “Ich glaube”, sagte sie langsam, “dass mir das Ganze nicht gefällt.”
Severn lächelte. “Ich glaube, es ist Zeit für eine Wette.”
“Du hast dich auch nicht geändert”, sagte sie. Das Lächeln, das sich auf ihr Gesicht schlich, war trügerisch. Sie konnte es – nicht ganz – unterdrücken.
Denk nach
, fuhr sie sich selbst an. Aber Gedanken führten in die Vergangenheit, und die Vergangenheit – führte an dunklere Orte, und heute konnte sie dort keinen Besuch riskieren.
Sie riss sich zusammen. “Was für eine Wette?”
“Na ja”, sagte er und nickte gen Osten, “da kommen vier bewaffnete Männer auf uns zu.”
Sie nickte.
“Und wir verstecken uns nicht vor ihnen.”
Sie nickte wieder.
“Wahrscheinlich nehmen sie das als Herausforderung.”
Dreimal, fürs Glück. “Und?”
“Und wir müssen wahrscheinlich kämpfen.”
“Das halte ich für unwahrscheinlich”, sagte Tiamaris in seinem knappen, gelangweilten Barrani.
“Misch dich nicht ein, dann werden wir schon.”
“Und was soll das beweisen?”, fragte Kaylin und ignorierte Tiamaris.
“Nichts.”
“Und die Wette?”
“Wir kämpfen.”
“Tolle Wette.”
“Und wer als Erster eine richtige Waffe zieht – du oder ich – verliert.”
“Worum wetten wir?”
“Wenn ich gewinne, lässt du mich erklären.”
“Nein.”
“Dann verlier eben nicht, Kaylin. Hier sind sie schon.” Sein Lächeln war nur eine dünne Linie von Lippen über Zähnen. Es ließ sie die ganzen fünf Jahre spüren, die sie immer getrennt gewesen waren.
“In Ordnung.”
Tiamaris rollte mit den Augen. “Ihr seid
Kinder
”, sagte er fast offen feindselig. Seine Worte waren Barrani – sie fragte sich, ob Drachen sich dazu herabließen, eine andere Sprache zu sprechen, wenn sie sich mit einfachen Sterblichen abgaben – aber sein Tonfall war es nicht. Nicht ganz. Er verschränkte seine Arme über seiner breiten Brust und lehnte sich gegen die verblasste Mauer aus Holz und Stein eines alten Gebäudes zurück.
Die Männer kamen näher. Sie waren bewaffnet; sie trugen offene Klingen. Ein Schwert, dachte sie, ein kurzes, und drei Messer, die so lang waren wie Severns Waffe.
“Hey, hey”, sagte einer. Er war ein großer Mann, und sein Gesicht war messerscharf mit dunklen Augen. “Ihr seid Besucher, wie ich sehe. Wahrscheinlich habt ihr vergessen, den Tribut zu entrichten.”
Severn sagte nichts.
“Bezahlt uns, dann dürft ihr weiterziehen.”
Kaylin fügte nichts hinzu.
Der Mann lächelte. “Wenn ihr nicht zahlt, wird der doppelte Betrag fällig, und wir nehmen ihn uns aus euren Börsen. Oh, Moment, ihr scheint keine zu tragen.” Er zuckte mit den Schultern. Ohne sich umzudrehen, sagte er etwas in gebrochenem Barrani. Kaylin verstand ihn und versteifte sich.
Aber ihre Hand legte sich nicht auf ihre Dolche, ihre Wurfmesser oder ihren kleinen Schlagstock. Stattdessen stellte sie sich breitbeiniger hin und wartete ab, während sie die Männer eingehend beobachtete. Sie trugen etwas Rüstung, zusammengestückelt, und nicht sehr gut. Aber sie waren nicht träge, sondern ständig in Bewegung.
Dass sie in der Mehrzahl waren, gab ihnen Selbstsicherheit. Es war offensichtlich, dass Tiamaris nicht vorhatte sich einzumischen, und so wurde er Teil der Landschaft. In den Kolonien war das nicht ungewöhnlich. Wahrscheinlich standen gerade jetzt Menschen in der relativen Sicherheit ihrer kleinen Häuser an ihre Fensterscheiben gepresst, duckten sich und schlossen Wetten mit ihren Mitbewohnern ab. Wetten war die beliebteste Freizeitbeschäftigung der Kolonien, besonders, wenn es darum ging, dass jemand grausam und mit viel Gemetzel ums Leben kam.
“Wie gut haben sie dich bei den Wölfen ausgebildet?”, fragte Kaylin.
“Lass dich überraschen.”
“Den Teufel werd ich.”
Er lachte.
Sie hätte vielleicht noch etwas hinzugefügt, aber dazu blieb keine Zeit mehr.
Sie hätte Severn den Anführer überlassen sollen, weil die beiden gleich groß waren. Der Höhenvorteil war noch nie auf ihrer Seite gewesen. Auch ihr Mangel an Höhe hatte einen gewissen Vorteil, aber normalerweise hieß das,
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