Kaylin und das Reich des Schattens
die Stirn. “Wer ist der Pinkel?”
“Tiamaris. Er ist ein – ein Freund.”
Misstrauen, sein natürlicher Gesichtsausdruck, verjagte die Überraschung aus seiner Miene. “Ein Freund von wem?”
“Meiner, irgendwie. Hör zu, Brecht, wir müssen –”
“Ja, ich hab dich gehört. Du willst reden. Ich sag dir was. Schwing dich hinter die Bar und besorg mir eine Flasche –”
“Nein”, sagte Severn.
Brecht beschimpfte ihn als dreifachen Hundesohn. Alles in allem war das fast zärtlich von ihm. “Worüber wollt ihr sprechen?”, fragte er, nachdem er damit fertig war.
Sie setzte an, überlegte es sich dann aber anders und wartete erst ab.
Er verlor etwa zehn Zentimeter an Größe. “Das hätte ich wissen müssen”, sagte er leise. “Elianne, hör zu –”
“Ich heiße jetzt Kaylin”, sagte sie leise.
“Teufel, ich konnte mich kaum an den alten Namen erinnern.” Was wahrscheinlich stimmte. “Du hast es geschafft”, fügte er hinzu. “Wir haben schon davon gehört. Ich dachte, es wäre gelogen – Ich dachte, du wärest tot, so wie die anderen.”
Sie schloss die Augen. Sie konnte Severn nicht ansehen.
Severn sagte nichts.
“Aber es hat wieder angefangen”, fuhr der alte Mann fort. Er hatte seine Hände auf sein Gesicht gelegt, als sie ihre Augen wieder öffnete. Es waren alte Hände geworden. Sieben Jahre hatten ihn verändert. “Connie hat ihren Jungen verloren. Ich habe ihn gefunden.”
“Was hast du getan?”
“Ich hab einen Laufburschen geschickt. Du kennst ihn nicht”, fügte er hinzu. “Der ist nach deiner Zeit gekommen. Ich habe einen Laufburschen zu den verdammten Gesetzeslords geschickt.”
Sie nickte.
Aber Severn nicht. Er trat vor, auf Brecht zu, und packte ihn am Hemdkragen.
“Severn –”, setzte sie an.
“Er lügt”, sagte Severn. In jeder der kurzen Silben lag Gefahr.
“Lügt? Warum?”
“Ich weiß es nicht. Warum sagst du es uns nicht, Brecht?” Ehe sie ein weiteres Wort sagen konnte, hatte Severn sein langes Messer in der Hand. Brecht war kein Dummkopf, er versuchte nicht einmal, nach seiner Flasche zu greifen.
“Severn, sei kein Idiot. Die Lords der Gesetze
haben
die Leiche doch”, fuhr sie ihn an.
“Jetzt haben sie sie. Brecht, zu
wem
hast du den Laufburschen geschickt?”
Brecht war stumm wie ein Stein.
Und Kaylin war, wegen Severn, wegen der Veränderung in ihm, ebenfalls stumm. Aber sie war ein Falke. Sie hatte Jahre in der strengen Lehre von Lord Grammayre und Marcus verbracht. Die Haare in ihrem Nacken begannen sich aufzustellen, und sie bekam eine Gänsehaut auf den Armen.
Sie warf einen Blick zu Tiamaris und bemerkte, dass seine Augen unnatürlich rot waren. Er hatte sich bereits von dem bemitleidenswerten Wirt und dem nicht ganz so bemitleidenswerten Schattenwolf abgewandt.
Zur Tür. Zur offenen Tür.
In der die Antwort stand. Und er lächelte. “Zu mir natürlich, Severn”, sagte er leise in perfektem Barrani. “Danke, Brecht. Das hast du gut gemacht, und du sollst belohnt werden.” Sein Elantranisch war ebenfalls perfekt, und es überraschte sie, es zu hören. Andererseits sprach Brecht wahrscheinlich kaum Barrani. Es sei denn, man wollte ausgefallene Flüche hören.
Kaylin war sich nicht sicher, ob sein Lohn nicht der Tod sein würde. Severns Augen waren schwarz. Sie wusste, was das bedeutete. Hasste es. Ohne nachzudenken schloss sie ihre Finger um das Gelenk seiner Messerhand.
Er starrte sie an. Starrte die Hand an, die sie so zögerlich um sein Handgelenk geschlossen hatte. Verstand, worum sie ihn bat, verstand auch, dass sie es nie in Worte fassen könnte.
Severn ließ den alten Brecht langsam los und drehte sich endlich um, um sich dem ausgestoßenen Barranilord zu stellen, der in seiner Kolonie als Nightshade bekannt war.
4. KAPITEL
E r war groß.
Größer als Teela oder Tain, größer als Tiamaris. Sein Haar war schwärzer als Ebenholz, und es war lang, so lang, dass es sich wie ein Umhang um seine Schultern legte.
Neben Teela und Tain kam sie sich unbeholfen, tollpatschig und plump vor. Nightshade – der Lord dieser Kolonie – machte es noch schlimmer: Sie fühlte sich wieder jung. Hatte Angst. Nur weil er dort stand, in der Tür, lässig gegen den Türrahmen gestützt. Er trug Ringe an den Händen, und das hasste sie.
Wäre sie nicht so erschüttert gewesen, hätte sie ihn selbst auch gehasst. Aber wie der Rest der Barrani schien er über alle ihre Gefühle erhaben. Seine Augen waren von einem kalten
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