Kaylin und das Reich des Schattens
Koloniallord” sagte Kaylin müde. “Ihm gehört ganz Nightshade.”
“Was ich gesagt habe, stimmt, Kaylin. Du lebst dort nicht mehr.”
“Nein.” Sie quetschte sich auf das kleine Stück, was von ihrem Bett noch frei war. “Tiamaris sagt, keiner außer Nightshade selbst kann es entfernen.”
“Er hat recht.”
Sie schwieg einen Augenblick. “Teela?”
“Was?”
“Wenn ich kein Falke wäre, hättest du mich dann umgebracht?”
Teela zuckte mit den Schultern. “Vielleicht. Es ist gefährlich, so ein Zeichen zu tragen. Besonders außerhalb seiner Kolonie.”
“Warum?”
“Frag den Kastenlord. Nein, wenn ich es mir genau überlege, frag den Kastenlord bloß nicht. Am besten wäre, wenn du dem Kastenlord überhaupt nicht mehr unter die Augen kommst.”
“Ich schreibe es mir auf die Liste.” Sie schloss die Augen. “Was wird Tain sagen?”
“Wenn du Glück hast, dann eine Menge auf Barrani, das du nicht verstehen kannst.”
Kaylin lieh sich einen Satz bei den Leontinern. Sie wusste, wie es um ihr Glück bestellt war.
Am Morgen weckte sie der Spiegel.
Wann genau am Morgen, konnte sie nicht sagen – aber der Satz “Verdammt noch mal zu früh” kam ihr in den Sinn. Sie rollte sich vom Bett.
Keine dröhnende Stimme folgte dem unnatürlichen Glanz der Spiegeloberfläche, und kein deutliches Bild von Eisenbeißer in voller leontinischer Genervtheit erschien.
“Geh weg”, murmelte sie. Sie zog ihr Nachthemd fest zusammen und stand auf. Ihre Knie zitterten. Andererseits, wenn sie mit Teela und Tain trinken gegangen wäre, wäre es schlimmer. Wenn ihre Mundhöhle nicht wie ein Fellknäuel geschmeckt hätte, wäre die Welt ein besserer Ort.
Der Spiegel leuchtete weiter. Sie kämpfte sich an seine Oberfläche vor und legte eine Hand gegen die untere rechte Ecke. Ein Gesicht tauchte aus dem viel zu hellen Licht auf, das Gesicht einer Frau. Sie war Leontinerin, und sie war kein Falke. Kaylin schüttelte den Schlaf von sich ab und richtete sich auf. “Marrin”, sagte sie leise.
“Kaylin. Tut mir leid, dass ich dich wecke – ich habe dir im Büro gespiegelt, aber Marcus hat gesagt, du kommst heute nicht.” Ihr Fell hatte die Farbe von blassem Gold, sie war nicht mehr jung.
“Stimmt – ich habe heute frei. Brauchst du mich?”
Marrin nickte.
“Ich bin nicht angezogen, und ich habe noch nichts gegessen. Wie bald braucht ihr mich?”
Die Stille dauerte einen Augenblick zu lange. Kaylin schnaubte. Das Frühstück konnte warten. Anziehen musste sie sich aber schon. Sie starrte auf ihren Arm, auf die Schiene, in der sich Marrins Bild widerspiegelte. Nach einem Augenblick ballte sie die Faust am beschienten Arm und fuhr in schneller Abfolge mit den Fingern über die Edelsteine. Es war die Reihenfolge, die Lord Grammayre ihr als Letztes beigebracht hatte: Weiß, blau, weiß, blau, rot, rot, rot.
Das einzige Geräusch in der kleinen Wohnung war das leise Klicken der Scharniere.
Im Viertel um den Fluss wurde es bereits eng. Die Straßen waren voll von Pferden und Menschen. Und wenn man die Größe von einigen der Menschen bedachte, war es am sichersten, ihnen aus dem Weg zu gehen. Kaylin war nur froh, dass kein Paradetag war. Wenn es einer gewesen wäre, hätte es den halben Tag gebraucht, um bis zur Findelhalle zu kommen, und sie hätte nach etwa drei Minuten angefangen, relativ unschuldigen Passanten den Kopf abzureißen.
Sie unterdrückte ein Fluchen, als sie an den verschiedenen Bäckerständen vorbeirannte. Sie hatte wirklich keine Zeit, anzuhalten, und wenn sie sie hätte, würde ihr das Geld fehlen. Ihr Magen war, wie immer, vollkommen ahnungslos in den Dingen des täglichen Lebens und knurrte jedes Mal, wenn sie einem Stand zu nahe kam. Wegen der gedrängten Menschen passierte das etwa alle zwei Meter.
Über den gebeugten Köpfen der Menge kreisten Schatten. Sie sah nach oben. Aerianer waren am Himmel. Es wäre gerade sehr nützlich, Flügel zu haben. Wie immer arbeitete sie mit dem, was sie hatte.
Die Findelhallen führten hinaus auf den Ablayne. Sie lagen hinter einem schweren Tor, waren umzäunt und sporadisch bewacht. Amos, der Wachposten, ging vor dem schmalen Metalltor auf und ab wie eine besorgte Henne, als Kaylin auf ihn zukam. Für einen Wachposten war er ein sehr guter Gärtner. Er trug kaum Rüstung, er hatte ein Schwert, das scharf gewesen sein mochte, als er vier Jahre alt war – wie lange das auch immer zurücklag – und er war, nach seinen eigenen Worten, nicht mehr
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