Kaylin und das Reich des Schattens
war nicht sauer – zumindest nicht auf sie.
“Deine Weibchen werden auch richtig sauer sein, wenn du nicht bald nach Hause gehst.”
“Zu spät”, murmelte er. Sie sah ihn an, und dann den ovalen Spiegel hinter ihnen an der Wand. “Du hast ihn
ausgestellt
.”
“Ranghöhe bringt Privilegien mit sich.”
Was heißen sollte, dass sie das nicht einfach so machen konnte. Sie verzog das Gesicht. Marcus hatte kein Gesicht, neben dem man morgens gern aufwachte. Und sie tat das oft.
“Wenn der Koloniallord dir Schaden zugefügt hat –”
Sie schüttelte den Kopf, zu müde – wenn auch nur knapp – um beunruhigt zu sein. “Hat er nicht.”
“Das … Kleid?”
“Er mag unsere Standardausstattung nicht.”
Marcus sagte etwas auf Leontinisch, und Kaylin lachte. “Ist eine Weile her, seit ich
das
das letzte Mal von dir gehört habe.”
“Sei vorsichtig, Kaylin.”
“Immer doch.” Sie ging zur Tür, und Severn folgte ihr. “Ich gehe nach Hause”, sagte sie bestimmt zu ihm.
“Ich weiß.”
“Du kommst nicht mit.”
Das wiederholte sie alle zehn Meter, bis sie die Monotonie selber nervte. Sie war zu betäubt, um wütend zu sein. Entweder das, oder sie wollte in einem so dummen Kleid nicht in einen echten Kampf geraten. Das sagte sie sich selbst. Schade, dass sie schon immer so eine schlechte Lügnerin gewesen war. Aber sie war müde, und sie wusste die Gesellschaft fast zu schätzen – Severn war hellwach.
Nicht, dass es, genau genommen, notwendig war. Kaylin lebte in einem kleinen Quartier, aber sie lebte in einem Teil der Stadt, der von Falken und Schwertern bevölkert wurde. Wenn ein Verbrechen geschah, dann normalerweise nicht auf offener Straße.
“Kaylin”, sagte Severn leise, als sie das Gebäude erreichten, in dem sich ihr kleines Zimmer befand. “Vertrau dem Koloniallord nicht.”
“Ich bin ein Falke, kein Idiot”, fuhr sie ihn an. Nach einem Augenblick fügte sie noch etwas hinzu: “Warum bist du zu ihm gegangen?”
Er zuckte mit den Schultern. “Das ist nicht wichtig.
“Wenn es nicht wichtig ist, antworte.”
Das tat er nicht. Sie hatte gewusst, dass er es nicht tun würde.
Sie standen im Dunkel der Zwillingsmonde und schwiegen sich unbehaglich an. Kaylin konnte das Schweigen nicht brechen. Sie drehte sich um, öffnete die Tür, und begann die Treppe zu erklimmen.
Severn folgte ihr.
“Severn, geh
nach Hause
.”
“Werde ich. Wenn du sicher in deinem angekommen bist.”
“Das war kein Date!”
Er sagte nichts. Sie fletschte die Zähne und rannte die Treppe hinauf. Dass sie stolperte, half ihr auch nicht weiter.
Dass er ihr die Hand reichte, half
ihm
nicht weiter.
Sie sprach ihre nächsten Worte sehr deutlich. “Ich will deine Hilfe nicht. Ich will –”
“Du willst mich umbringen?”
“Irgendwie so was.”
Er zuckte mit den Schultern. “Mach ruhig. Ich halte dich nicht auf.”
Und schon hasste sie ihn wieder. Sie richtete sich auf, stürmte die Treppe hinauf, und war außer Atem, als sie endlich mit ihren zwei Schlössern fertig war und die Tür aufstoßen konnte.
Das einzige Licht in ihrem Zimmer kam aus dem Spiegel. Die Fensterläden waren geschlossen. Hatte sie das getan?
Severn kam hinter ihr die Treppe hinauf, und sie ergab sich dem Unvermeidbaren. Sie betrat ihr Zuhause und ließ die Tür hinter sich offen. War überrascht, als er nicht hinter ihr eintrat.
Er stand im Türrahmen und sah sich alles an, als sei er schon immer ein Falke gewesen. “Du lebst allein”, sagte er schließlich.
Sie nickte. “Ist einfacher so.”
“In den Kolonien bist du nie gerne allein gewesen.”
“Das war etwas anderes, in den Kolonien. Aber ich lebe nicht mehr dort.”
“Tust du”, sagte er leise. “Wir beide tun das.”
“Eigentlich”, sagte eine vertraute Stimme, “tut sie das nicht. Kaylin, ist er ein Freund, oder soll ich ihm helfen, die Tür zu finden?”
Kaylin lachte fast laut auf. Teela hatte sich eine sehr lässige Stellung am Treppengeländer ausgesucht, und sie trug einen Dolch in der linken Hand. Sie sprach Elantranisch, wie sie es fast immer tat, wenn sie es mit Falken zu tun hatte.
Es war schon eine Weile her, seit Kaylin sie etwas anderes hatte benutzen hören.
“Er ist ein Falke”, sagte sie ruhig.
Teela legte ihre Stirn nur kaum merklich in Falten. “Ich kenne ihn nicht.”
“Er ist neu.”
“Muss er sein, wenn er sich vor
deiner
Tür herumtreibt.” Sie stieß sich vom Geländer ab und richtete sich zu voller Höhe auf.
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