Kaylin und das Reich des Schattens
nickte.
“Tiamaris?”
“Sie hat gesehen, was keiner der überlebenden kaiserlichen Magier jemals zu Gesicht bekommen hat”, sagte der Drache ruhig, in fehlerfreiem Barrani, das nur von Vorsicht gezeichnet war. “Ihre Worte faszinieren mich, aber ich zweifle nicht an ihnen.”
“Warum?”
“Ihr wisst genau, warum sie diese Zeichen trägt.”
Der Falkenlord nickte grimmig. “Aber was bedeuten sie? Warum ausgerechnet sie?”
“Das ist schon immer die Frage gewesen, Grammayre. Die Antwort interessiert auch den Kaiser.”
“Ich weiß. Kaylin – zeig mir deine Arme.”
Sie hob sie. Sie zitterten.
Tiamaris trat an den Rand des Kreises, doch er betrat ihn nicht. Er zog allerdings die Augenbrauen zusammen. “Ich will die bildlichen Aufzeichnungen sehen”, sagte er, distanziert, die Augen ein blasses Gold.
Der Falkenlord zog seinerseits die Brauen zusammen. Er deutete auf den Spiegel und sprach drei Worte schnell hintereinander. Der Spiegel begann zu glühen. Kaylin hasste Spiegel einfach.
Die Oberfläche dieses Exemplars glimmerte und bewegte sich, und als sie sich wieder klärte, sah sie ihre Arme aus nächster Nähe. Der Falkenlord war nicht klein, und es war sein Spiegel. Tiamaris sah einige Zeit in den Spiegel, dann hinab auf ihre Arme. “Sie haben sich verändert”, sagte er leise.
Der Falkenlord runzelte die Stirn. Er stellte sich neben den Drachen und untersuchte ebenfalls die Symbole, die Kaylins inneren Arm vom Handgelenk bis zum Ellenbogen bedeckten. “Man sieht es kaum”, sagte er schließlich, “aber du hast recht.” Er sah Kaylin an, die Augen klar, fast grau. Magie.
“Bis auf das Zeichen des Ausgestoßenen sehe ich keinen Unterschied an ihr”, bemerkte er schließlich.
“Entfernt die Armschiene, Grammayre, und seht dann noch einmal nach.”
Der Falkenlord zögerte. Dann schüttelte er den Kopf. “Noch nicht”, sagte er ruhig. “Kaylin, du hast gute Arbeit geleistet. Geh nach Hause.” Er schwieg einen Augenblick, ehe er noch etwas hinzufügte. “Entferne die Hülle nicht, ehe ich es dir befehle.”
6. KAPITEL
W ie versprochen – oder angedroht, sie war sich nicht sicher – wartete Severn auf sie. Marcus ebenfalls. Sie plauderten nicht gerade entspannt miteinander, aber sie sahen beide gleichzeitig auf, als sie um die Ecke kam und sich mit der freien Hand an der Wand abstützte. Tiamaris hatte sie nicht begleitet, er blieb im gewölbten Turm mit dem Falkenlord eingeschlossen.
Bestimmt sprachen sie über sie.
“Kaylin”, knurrte Marcus.
Sie nickte steif. “Danke”, sagte sie.
“Für was?”
“Für die – die Armschiene. Ich glaube, sie hat mir das Leben gerettet.”
“Schlechtes Zeichen.”
Sie nickte wieder. “Das ist es immer.”
“Du … hast die Kontrolle verloren?”
Sie schüttelte den Kopf und hasste die Frage. “Nein.”
“Was ist passiert?”
Sie zögerte. “Ich weiß nicht, ob es nicht versiegelt ist –”
“Es ist nicht im Kristall. Also ist es auch nicht versiegelt.”
Severn, der sie stumm betrachtete, sagte nichts dazu, aber in seinem Blick lag eine Eindringlichkeit, die verriet, wie viel er davon wissen musste.
“In den … Kolonien gibt es … alte Magie. Wenigstens in Nightshade.”
Die Haare im Nacken des Leontiners stellten sich so plötzlich auf, dass sie wie schlanke Federkiele aussahen. “Hat man dich den Ruinen ausgesetzt?”
Sie runzelte die Stirn. “Nein. Ich war in den Hallen des Koloniallords.”
Marcus sagte nichts, was immer ein schlechtes Zeichen war. Aber er streckte eine Hand aus, und nach einem peinlichen Augenblick des Zögerns ergab sie sich und legte ihr Handgelenk in seine Handfläche. Die Armschiene leuchtete im dumpfen Licht, ein Traum aus Gold.
“Wozu ist das Teil gut, Kassan?”, fragte Severn.
Marcus zögerte und sah Kaylin kurz in die Augen.
Das ist deine Sache
, schien er zu sagen. Sie schüttelte den Kopf.
“Er ist dein Partner.”
Ist er nicht.
Eine Lüge. Keine gute. Sie sprach verbittert weiter: “Sie blockiert meine Magie. Wir wissen nicht, wie es funktioniert. Ich weiß nicht, woher das Ding kommt, der Falkenlord hat es mir gegeben. Aber es ist alt. Vielleicht so alt wie –” Sie unterbrach sich, dachte an die Langen Hallen, und mochte keinen der Gedanken, die darauf folgten.
Sie wendete sich an Marcus. “Der Falkenlord hat mir befohlen, nach Hause zu gehen.”
“Gut. Dann geh.”
“Nicht aufwecken, versprochen?”
Er knurrte wieder, aber es war nur leeres Gepolter. Er
Weitere Kostenlose Bücher