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Kaylin und das Reich des Schattens

Kaylin und das Reich des Schattens

Titel: Kaylin und das Reich des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Sagara
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schärfer, und ihre Wangenknochen traten stärker hervor. Sie würde nicht mehr lange ein Mädchen sein. Und dann wollte sie den Falken beitreten.
    Kaylin verzog das Gesicht. “Ich darf nicht gestört werden”, fuhr sie ruhig fort.
    “Darum kümmere ich mich.”
    “Nein, ich meine –” Sie konnte nur den Kopf schütteln. “Es ist anders als sonst.”
    “Wie?”
    Ärzte waren teuer, aber weil Marrin so einschüchternd war – wenn sie musste –, konnte sie immer wenigstens einen finden, der zu ihnen kam. Erst nachdem die Ärzte gekommen und ohne ein Wort zu sagen wieder gegangen waren, wurde Kaylin gerufen.
    Weil Marrin genau wie die Falken wusste, dass Kaylins Gabe verborgen wurde, verborgen bleiben musste. Auf Befehl des Falkenlords, und aus noch viel besseren Gründen. Kaylin konnte heilen. Es war die seltenste der magischen Gaben, und es gab nur vier bekannte Heiler im ganzen Reich – alle von ihnen Abgeordnete des Kaisers. Sie lebten in einem sehr reichen und sehr hübschen Käfig, und sie sprangen auf seinen Befehl und nach seinen Launen. Sie warteten auf Mordversuche, die kamen und gingen, damit sie ihre Finger ausstrecken konnten.
    Aber
deren
Gaben? Verstand man. Für Kaylins gab es keine richtige Erklärung. Sie hatte sich nicht jahrelang für ihren Nutzen ausgebildet, die Fähigkeiten waren einfach zu ihr gekommen. Genau wie die Zeichen auf ihren Armen.
    Der Falkenlord meinte, dass beide zusammenhingen, und er vertraute dieser Macht nicht. Kaylin war klug, sie tat es ebenfalls nicht. Aber vor die Wahl gestellt, sie zu benutzen, oder auf sie zu verzichten? Sie starrte in Cattis blasses Gesicht. Es gab nicht viel zu überlegen.
    Das gab es nie.
    “Seuchen sind leichter.”
    “Es ist trotzdem lebensbedrohlich.”
    Kaylin nickte. “Aber es ist einfacher.” Etwas umzubringen. “Das hier – so was habe ich noch nie getan.”
    Marrin richtete sich auf, und ihre Klauen klickten zusammen. Es war für einige Minuten das einzige Geräusch im Raum, weil Kaylins Atem kaum hörbar war. “Ich vertraue dir”, sagte sie schließlich in der Sprache ihres eigenen Volkes. Es war ein Satz, der mehrere Bedeutungen hatte, aber er wurde immer nur in Situationen benutzt, in denen es um Leben oder Tod ging. Oder beides. Marcus hatte ihr die Worte beigebracht, kurz bevor sie den Eid der Falken abgelegt hatte, aber er hatte ihr nie zu ihrer Zufriedenheit erklären können, was er bedeutete. Ihre Übersetzung stimmte nicht ganz. Aber auf einer gewissen Ebene
verstand
sie einfach. Sie konnte es einfach nur nicht in eigene Worte fassen. Komisch, dass etwas, was sie nicht erklären konnte, trotzdem so viel Gewicht hatte.
    Sie legte ihre freie Hand an Cattis Gesicht, hielt die blasse Haut zwischen ihren Handflächen und schloss die Augen.
    Catti war nicht da.
    Kaylin hatte das schon erwartet, aber es traf sie dennoch schwer – dieses Gefühl von Abwesenheit. Die Entfernung. Sie hatte Angst davor zu versagen, aber sie war nicht gelähmt – Lähmung würde ihr nicht weiterhelfen. Angst, das hatte ihr der Falkenlord beigebracht, hatte durchaus ihren Platz. Aber es war schwer, sie im Zaum zu halten. Die Jahre hatten ihr die Hoffnung gegeben, dass sie es konnte – aber nicht die Sicherheit.
    Catti.
    Sie stellte sie sich vor. Es half. Lieber an Catti denken, wie sie war – wie sie ist – mit den Jahren. Kaylins Erinnerung war wie ein Kaleidoskop, zersplittert, aber auf eine Art, die einen fesselte, sogar schön, wenn man sie nur richtig betrachtete. Als Kind hatte Catti leuchtend rotes Haar gehabt, das mit den Jahren kastanienbraun geworden war. Es war gewachsen, abgeschnitten worden, immer und immer wieder, als wäre es ein Unkraut, etwas, was einen Gärtner zum Fluchen brachte. Kaylin hatte es in Zöpfen gesehen, in Rattenschwänzen über den breiten Ohren des Mädchens, sie hatte die Locken auf dem Boden liegen sehen. Es war zu fein, um es zu verkaufen, hatte Marrin ihr gesagt.
    Catti liebte es, zu reden. Sie liebte es, zu singen. Das Erste konnte sie bis in die Puppen, aber das Zweite? Nicht sehr gut, und meistens traf sie den Ton nicht. Das hatte sie aber nie davon abgehalten. Sie sang gern während der Feiertage, wenn es den Waisenkindern erlaubt war, auf der Straße kleine Stücke aufzuführen; sie liebte es, an Paradetagen zu singen, wenn sie einen freien Tag von der endlosen Abfolge von Schulstunden und Arbeiten bekamen, sie sang gerne nachts, als wäre sie eine Mutter, über den Betten der jüngsten Findelkinder.

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