Kaylin und das Reich des Schattens
versprochen,
nie wieder
bei einem Kind zu versagen.
Und so kämpfte sie weiter, mühte sich, die schlüpfrigen Fasern ihrer unzuverlässigen Gabe einzufangen, sie zu verbinden, Stück für Stück, bis sie alle wieder fest zu fassen hatte. Sie schienen sich zu wehren, es war dieses Mal schwerer als damals, als sie über Sestis fast fatale Geburt gewacht hatte. Kaylin hatte die Augen bereits geschlossen. Cattis Gesicht, und der kostbare Klang ihrer schiefen Stimme wurden alles, was sie sehen und hören wollte.
Als sie die Gabe endlich zu fassen hatte, band sie sie fest an sich, streckte sie aus und begann, sie in merkwürdigen Knoten um Cattis Verletzungen zu winden – die, die sie sehen konnte, und die, die sie fast fürchtete, zu berühren. Eine schwierige Arbeit. Und lebensnotwendig.
Mehr Fasern. Mehr Bruchstücke ihrer Gabe. Auch diese band sie an sich und spürte den kribbelnden Funken, der wie ein Schock an ihnen entlangfuhr. Sie ließ nicht los, sondern verwob sie zu einem Geflecht, das stark genug war, um sie und Catti beide zu halten. Es war, dachte sie, wie ein Kokon. Sie fragte sich, was daraus schlüpfen würde.
Hoffte darauf, dass es Catti war, gesund und ganz.
Leise rief sie nach Catti. Bat sie darum, zu singen.
Und jetzt, da die Macht sie verband, hörte Catti sie. Ihre Stimme war gebrochen und heiser, sie verband die Laute nur ungeschickt und traf – wie immer – nicht ganz den richtigen Ton. Kaylin spürte den scharfen Schmerz der Freude und ängstliche Hoffnung, als sie in Cattis Gesang mit einstimmte. Falls Marrin noch da war, und falls Marrin sie hören konnte, konnte sie einem fast leidtun. Kaylin hoffte, dass sie woanders war – man hatte kein Mitleid mit einem Leontiner. Nicht mehr als einmal.
Aber sie hörte das leise Seufzen von Marrins Atem, und sie öffnete langsam die Augen – wenigstens meinte sie, es wären ihre. Für einen Augenblick sah sie die Decke des Raumes aus einem ganz falschen Winkel. Cattis Blick und ihrer, vermischt.
Es war keine gute Art, die Welt zu betrachten.
Kaylin stürzte von der Bettkante, doch sie fiel nicht auf den Boden, sondern stattdessen in Leontinerarme. Sie waren warm und sehr stark, sogar für Marrins angebliches Alter.
“Catti …”
“Sie ist wach”, sagte Marrin, ihr Schnurren tief aus der Kehle und laut, so nahe war sie an Kaylins Ohr. “Aber ich habe das Gefühl, du solltest es nicht sein.”
“Klingt gut”, murmelte Kaylin.
Und dann war sie es nicht mehr.
7. KAPITEL
K aylin schlief sich das meiste der lähmenden Erschöpfung in der Findelhalle ab, falls man etwas so unregelmäßiges als Schlaf bezeichnen durfte. Einzeln oder zu zweit kamen die Findelkinder, um sie zu besuchen, und wenn Marrin nicht da war, pieksten sie sie oder zogen an ihren Augenlidern, um zu sehen, ob sie wach war.
Sogar Dock kam vorbei, aber Kaylin war müde genug, um ihn bei seinem richtigen Vornamen, Iain, zu nennen, und das ließ seine Laune so finster werden, dass sie fast wie eine eigenständige Person neben ihm Form annahm. Wäre sie ein bisschen wacher gewesen, hätte sie ihn gefragt, warum er sich überhaupt Dock nannte – aber sie war schon für die kleinste Gnadenfrist dankbar.
Marrin kam, um ihn aus dem Zimmer zu scheuchen, und nachdem die Findelkinder in ihren Betten steckten – so sehr sie sich eben stecken ließen, wenn man bedachte, dass sie kaum Angst vor den Wutausbrüchen eines Leontiners hatten – rief Marrin Amos von seinem Posten am Tor hinein. Es war jetzt dunkel, und die Tore hätten verschlossen sein sollen, was theoretisch bedeutete, dass er nach Hause gehen konnte.
Marrin bat ihn, auf dem Weg bei Kaylin vorbeizugehen, und er half Kaylin, die Straße entlangzugehen. Es war dort jetzt leerer, das musste sie zugeben. Und wenn man bedachte, dass sie unter dem schier unerträglichen Gewicht ihres eigenen Körpers fast zusammenbrach, war sie dafür dankbar.
Er wusste es besser, als zu fragen, was sie getan hatte. Er begleitete sie einfach bis zur Eingangstür ihres Wohngebäudes und umarmte sie kurz, ohne ein Wort zu sagen, ehe er zusah, wie sie die Treppe hinaufging.
Sie erinnerte sich noch daran, die Tür geöffnet zu haben.
Sie erinnerte sich auch noch daran, in ihr Zimmer gestolpert zu sein, die Tür hinter sich abgesperrt zu haben, weil es ihr so sehr ein Reflex war, dass ihre Finger die ganze Arbeit verrichteten, während ihr Verstand leer bleiben konnte. Sie schaffte es bis zum Bett.
Kaylin würde diesen verdammten Spiegel
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