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Kaylin und das Reich des Schattens

Kaylin und das Reich des Schattens

Titel: Kaylin und das Reich des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Sagara
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war seiner Meinung nach Verschwendung von gutem Leder.
    Clint lächelte, aber es war nur ein dünnes Lächeln, das auch eine Täuschung des Lichts sein konnte.
    Catti war das letzte Kind gewesen, das sich auf dem freien Platz am oberen Treppenabsatz einfand, wo Marrin so viele ihrer Gruppenansprachen hielt. Sie war über Iains ausgestreckten Fuß gestolpert und hatte sich umgedreht, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen, ehe sie merkte, dass alle um das Treppengeländer herum sie beobachteten. Ihre gemurmelte Entschuldigung klang alles andere als ehrlich, aber Marrin überging sie mit einem Schnaufen.
    “Und das ist Catti. Sie ist leider nicht sehr pünktlich.”
    Und da war sie. Neunzig Zentimeter groß, mit dürren Armen und roten Haaren, strahlte sie Freude und Trotz gleichermaßen aus. Sie trug ungefärbtes Leinen, das sie als Waisenkind auszeichnete, ihr Haar zu einem Zopf zusammengebunden, der bereits ausfranste, und ihre Wangen waren blass und sommersprossig. Ihre Augen hatten die gleiche Farbe wie die der Barrani.
    Pünktlichkeit wird total überbewertet
, wollte die ältere Kaylin sagen. Die jüngere Kaylin sagte nichts, sie war damit beschäftigt, sich daran zu erinnern, was das Wort pünktlich überhaupt bedeutete. Sie trafen sich einen Augenblick – älteres und jüngeres Selbst – als die Kaylin der Gegenwart die Hand ausstreckte und
diese
Catti packen wollte, ehe sie verschwand.
    Für Kaylin war Catti immer ein wichtiger Teil der Findelhallen gewesen.
    Catti war wieder da. Schwach, nur als Erinnerung, aber
da
. Kaylin hielt sie fest, baute auf der Erinnerung auf, gab ihr Wurzeln. Sie hätte nicht sagen können, warum – und sie würde es auch nicht müssen. Niemand würde sie fragen. Ihre Hände waren jetzt warm, ihre Arme kribbelten. Sie rief leise nach Catti, und niemand antwortete. Wäre es nur die verdammte Pest gewesen, hätte sie jemanden gefunden.
    Aber das war der falsche Gedanke, er führte fort von den notwendigen Erinnerungen, hin zu anderen, die zur Findelhalle gehörten. Sie ließ sie vorbeiziehen.
    Catti. Catti, ich bin hier.
    Unter ihren Handflächen spürte sie trockene Haut, feine Wangenknochen. Sie ließ zu, dass sich dieses Gefühl in ihr ausbreitete, und dachte an Catti. Sie hielt sich an Erinnerungen fest, von denen Catti nicht einmal etwas wusste. Sie spürte – langsam – Gliedmaßen, die noch vogelgleich dürr waren, einen Körper, mit dem die Pubertät noch nicht fertig war. Weiße Haut. Und darunter, Muskeln – wenn auch nicht viele – und Gefäße, Lungen, Herz. Darunter die Wirbelsäule.
    Cattis Hände auf ihren Hüften, ein Spiegelbild von Kaylins. Cattis Finger, die in die Luft griffen, als könnten sie durch reine Willenskraft Krallen ausfahren wie ein Leontiner. Catti singend, singend, singend, immer in ihrer schiefen Stimmlage.
    Der Körper und die Erinnerungen waren zu weit getrennt. Ein Teil lag fest verwurzelt in Kaylin, der andere außerhalb. Sie musste sie zusammenfügen, aber sie wusste nicht, wie.
    Doch ehe sie das tat, musste sie den Körper heilen. Sie musste finden, was gebrochen war, musste die Dinge finden, für die sie immer noch keine Worte kannte – auch wenn ihr Besuch mit Clint beim Leichenbeschauer wahre Wunder für ihren Wortschatz getan hatte, und das alles nur für den Preis ihres Mittagessens.
    Da. Etwas stimmte nicht. War gebrochen. Nein, nicht nur eine Sache, viele, viele kleine Dinge, für die ihre Finger zu ungeschickt waren, zu unbeholfen, um sie zu richten. Sie verlor sie – und schlimmer noch, für einen Augenblick verlor sie die Kontrolle über ihre Gabe.
    Panik. Das war ihr schon vorher passiert, und es hatte immer eine Weile gedauert, bis sie ihren Weg zu ihr zurückgefunden hatte. Sie war keine Magierin – hatte keine schönen, theoretischen Worte, um zu beschreiben, was sie wusste. Sie hatte nur Gewissheit, und im Augenblick war es die falsche.
    Etwas Kühles berührte ihre Lippen.
    Sie schluckte, schmeckte nichts, sie merkte kaum, wie ihr Körper sich bewegte, so sehr war sie in Cattis bewegungslosem Leib gefangen. Als wäre er ihr eigener, vertrauter als der, in dem sie ihr gesamtes Leben verbracht hatte.
    Sie konnte zu sich selbst zurückkehren, das hatte sie schon vorher getan. Aber wenn sie das jetzt tat, war das Mädchen verloren. Und sie konnte Marrin nicht als Versager gegenübertreten. An dem Tag, an dem sie zum ersten Mal die Hand auf ein fiebriges, knochendürres Findelkind gelegt hatte, hatte sie sich selbst

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