Kaylin und das Reich des Schattens
wären – aber der hier war es nicht. “Ja, Sir.”
“Gut. Callantine?”
“Ich erinnere mich nicht an alle Falken”, antwortete der Mann. “Sie scheint mir zu jung zu sein.”
Der Gesichtsausdruck des Falkenlord war ein so deutlicher Befehl, wie man ihn nur bekommen konnte, aber nur falls sie es nicht mitbekommen haben sollte, trat Marcus auch noch vor und legte ihr seine Pranke auf die linke Schulter. Er drückte nicht zu. Nicht sehr fest.
“Ich gebe zu, ich bin überrascht, wie schnell der Koloniallord euch diese Leiche überlassen hat”, fuhr der Magier fort. “Der Junge ist gerade erst verstorben.”
Sie mochte Magier wirklich überhaupt nicht.
“Kaylin”, sagte der Falkenlord und ignorierte den Kommentar, “ich will, dass du bei der Beschauung dabei bist.”
Sie nickte, aber sie verspannte sich. Die eine Leichenbeschauung, bei der sie dabei gewesen war, hatte ihr tagelang den Appetit verdorben, und sie hatte nicht den geringsten Wunsch, diese Erfahrung zu wiederholen.
“Red?”
Der Beschauer hatte bereits seine Handschuhe angezogen und seine Skalpelle in die Hand genommen. Er gab eines an Tiamaris weiter, und der Drache akzeptierte es ohne Kommentar. Als wäre er daran gewöhnt, an solchen Obduktionen teilzunehmen.
“Viele Schnitte gibt es nicht zu machen”, sagte sie ohne nachzudenken. “Man hat ihn schon ziemlich gründlich geöffnet.” Sie konnte die bittere Wut in ihrer Stimme nicht verbergen und versuchte es auch gar nicht erst.
Red warf ihr einen Blick zu und schenkte ihr eine müde Grimasse. “Ich werde nicht viel schneiden”, sagte er leise. “Aber ich will die Haut unter den Tätowierungen untersuchen, und ich will mir die Ränder der Schnitte ansehen, wie du sie nennst. Du musst nicht –”
“Doch”, unterbrach der Falkenlord mit grimmiger Stimme, “sie muss.”
Red runzelte die Stirn. “Lord Grammayre”, setzte er an, doch Marcus wählte diesen Augenblick für ein leises Knurren. Selbst für einen Leontiner war das ziemlich einsilbig, aber es brachte Red zum Schweigen.
Kaylin sah zur Wand gegenüber der Tür. Sie war ein einziger langer Spiegel, der in Hüfthöhe begann – ihrer Hüfte – und bis zur Decke reichte. Sie konnte sich selbst deutlich darin sehen und wünschte, sie könnte es nicht. Sie sah furchtbar aus. Und so fühlte sie sich auch.
Aber das Zeichen auf ihrem Gesicht? Es war zu einem komplizierten Muster aus dünnen schwarzen Linien geworden. Auffällig. Sie hob eine Hand, um es zu bedecken, und erwischte Callantine dabei, wie er ihre Wange anstarrte.
“Lord Grammayre”, sagte er, “ich würde das Mädchen, wenn das hier vorbei ist, gern untersuchen.” Er sprach Barrani.
“Sie ist ein Falke. Sie spricht Barrani”, entgegnete der Falkenlord. “Und ich glaube, die Untersuchung, die Ihr wünscht, fällt in ihren Erlaubnisbereich.”
Sie konnte den Falkenlord auf keinen Fall küssen. Auch sein Sinn für Humor verbot es, also tat Kaylin es nicht – aber er entkam nur knapp. Sie versuchte krampfhaft, Callantine nicht so anzusehen, als wäre er etwas, das sie sich von den Stiefelsohlen gekratzt hatte, und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Red.
Severn stand neben ihm. Nicht so nah, dass er ihm in den Weg kam, aber doch nah genug, dass Red zuckte.
“Severn”, sagte Kaylin leise.
Er sah auf, als wäre er überrascht, sie zu sehen, so konzentriert war er. Etwas an seinem Gesichtsausdruck bewegte sie. Zu ihm hin. Ihr Verstand holte sie nur langsam ein.
“Stör Red nicht”, sagte sie ihm. “Er braucht viel Platz beim Arbeiten.”
“Das weiß er”, sagte Red, “er ist nur bei den Falken neu … bei den Wölfen war er schon eine Weile.” Er warf einen Blick auf Severn und dann zurück auf den Jungen.
Auch ihre Augen wurden von ihm angezogen.
“Er ist zwischen zehn und zwölf”, sagte Red ruhig. “Ich würde sagen zehn, aber in den Kolonien ist Nahrung knapp genug, um eine genaue Aussage zu erschweren.” Seine Stimme war trocken, fast ohne Betonung. Als Kaylin ihn zum ersten Mal hatte arbeiten sehen, hatte sie ihn für ein Monster gehalten. Sie war jünger gewesen, und die Leiche auf dem Untersuchungstisch älter.
Mit der Zeit hatte sie begriffen – auch wenn es ihr schwerfiel – dass er so trocken, so distanziert sein musste, um seine Arbeit machen zu können.
Es ist nur ein Körper
, hatte er ihr nach dem ersten Mal gesagt.
Er ist tot. Er spürt nichts. Keinen Schmerz. Keine Angst. Daran denke ich, Kaylin. Du denkst
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