Kaylin und das Reich des Schattens
leisten konnte. Sie zwang sich, sie zu öffnen, hinzusehen, ihrem Namensgeber Ehre zu machen. Dem Falken.
In der Stille hörte Kaylin die klirrenden Glieder einer sich bewegenden Kette. Die Barrani hörten es auch und veränderten ihre Stellung. Sie würden kämpfen.
Tiamaris veränderte seine Stellung ebenfalls, aber ehe er zu einer Bewegung ansetzen konnte, streckte sie die Hand aus und berührte ihn am Ärmel. Es erschreckte ihn nicht, vielleicht hatte er es erwartet, aber er würdigte sie keines Blickes.
Severn sah sie an.
“Kaylin, nicht –”
Sie schüttelte den Kopf. “Wir können nicht kämpfen”, sagte sie ihm leise. “Nicht hier. Nicht jetzt.” Sie schob sich an ihm vorbei und versuchte, auch an Tiamaris vorbeizukommen. Es hätte nicht schwierig sein dürfen, der Flur war breit genug. Doch das war es.
Sie ging an dem Drachen vorbei und auf die Barrani zu. Sie bewegte sich vorsichtig und langsam, und als sie zehn Fuß von der Leiche entfernt war, steckte sie ihre Waffen mit zitternden Händen zurück in ihre Scheiden.
Die Barrani sahen sie an. Sie waren wie festgenagelt von ihrer Anwesenheit. Sie wusste, warum. Sie sprachen nicht, aber sie hielten sie auch nicht auf, als sie auf sie zuging und sich vor die Leiche des Jungen kniete.
Sein Gesicht war zu einer Maske unendlicher Qualen erstarrt. Das durfte es nicht sein, der Körper hätte seine Totenstarre längst überwunden haben sollen. Seine Augen waren groß und wie erstarrt auf das gerichtet, was er als Letztes gesehen hatte. Ihr Magen verknotete sich vor Ekel und Wut.
Sie streckte die Hand aus und schloss die Augen, spürte die steife Kurve seiner Wimpern gegen ihre Handfläche. Die Arme des Jungen waren bloß, und auf ihnen prangten in dunklen Wirbeln Zeichen, die sie erkannte.
“Seine Schenkel?”, fragte sie.
“Ebenfalls gezeichnet”, sagte einer der Barrani.
Sie zog die grobe Decke, die den Oberkörper des toten Jungen bedeckte, zur Seite, und bedauerte es fast sofort. Der Geruch war überwältigend. Vertraut. “Es ist das Gleiche”, sagte sie zu Severn. Nur zu Severn.
Er begann sich ihr zu nähern, und einer der Barrani
bewegte
sich. Er bewegte sich so leise, dass Kaylin seine Anwesenheit erst bemerkte, als er vor Severn stand und ihm den Weg versperrte.
Sie bedeckte ihren Mund für einen Augenblick mit der Hand, nahm sich dann zusammen und stand auf. “Wir brauchen den Körper”, sagte sie leise.
Die Barrani erwiderten nichts.
Aber das Zeichen auf ihrer Wange war warm, und sie verstand, was es bedeutete. Im Augenblick, an diesem Ort, verstand sie es. Weiter wollte sie nicht sehen, das war eine Gabe aus ihren Jahren in den Kolonien.
“Ich beanspruche diesen Körper im Namen des Mannes, dessen Zeichen ich trage”, sagte sie ihnen ruhig.
Sie sahen sich gegenseitig an. Bei Menschen hätte man es einen unsicheren Blick genannt. Aber diese Barrani gaben nichts von sich preis. Sie wartete angespannt, während sie stumm ihre Entscheidung fällten. Der Barrani, der bisher gesprochen hatte, entbot ihr eine Verbeugung. Sie war kurz, aber tief.
“Ihr tragt die Verantwortung”, sagte er ernst, “für das Missfallen Eures Lords.”
“Das tue ich.” Normalerweise hätte sie das Wort “Eures” beanstandet, aber sie wusste, dass es ihr nichts brachte. Sie musste sich auf die Zunge beißen, um es nicht trotzdem zu tun.
“Dann nehmt den Körper. Wir sind Zeugen.”
“Tiamaris”, sagte sie leise.
Der Drache trat vor. Dieses Mal versuchte niemand, ihn aufzuhalten. Er stellte sich an Kaylins Seite. Sie konnte seinen Schatten spüren, als wäre er warm. “Ich kann ihn tragen”, sagte er.
Sie wollte den Jungen nicht anfassen. Sie stand auf und nickte. Severn stand sofort an ihrer Seite, und auch er sah nicht hin, als Tiamaris den schmächtigen Körper in die Decke wickelte, die die Verletzungen verborgen hatte, denen er erlegen war.
Sie spürte einen Arm um ihre Schultern und schüttelte ihn nicht einmal ab, als sie merkte, dass es Severns war. So betäubt war sie.
Es war ein unangenehmer Gang durch die Straßen von Nightshade. Die Barrani-Wachen fielen vor und hinter sie, und sie räumten die Straßen allein durch ihre Anwesenheit. Sie war ihnen fast dankbar, und das hasste sie. Zu einer anderen Zeit wäre sie eines der Kinder gewesen, die sich versteckten. Und jetzt? War sie ein Teil des Grundes für ihre Furcht, und diese Veränderung gefiel ihr gar nicht.
Die Barrani folgten ihnen nur bis an den Rand der Grenze,
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