Kaylin und das Reich des Schattens
Nicht, wenn sie nach einer Menge Mühen endlich bewiesen hatte, dass die erste hinter ihr lag.
Hinter dem Büro lag der Turm, zur Linken, nach einem langen Korridor und hinter reich verzierten, schweren Doppeltüren, kamen die Räume der Leichenbeschauer. Sie waren genau genommen keine Falken, sonder dienten
allen
Lords der Gesetze. Aber wenn sie sich entschlossen, einen der drei Türme zu betreten, dienten sie diskret dem Lord, der dem Turm vorstand, zu dem sie gerufen worden waren. Aus diesem Grund vertrauten ihnen die Lords und misstrauten ihnen die Falken, Wölfe und Schwerter. Auf seine eigenen Leute konnte man sich verlassen. Aber auf jemanden, der behauptete, keine Bindungen oder Loyalitäten zu kennen?
Dennoch, wenn Kaylin ehrlich mit sich selbst war, gab es immer einen oder zwei, die zwar das Zeichen der Falken trugen und Loyalität vortäuschten, in denen sie aber nie Wurzeln schlug. Wenigstens waren die Leichenbeschauer ehrlich.
Sie verschränkte ihre Finger – wenigstens acht von ihnen – und betete, dass sie Red neben der Leiche antreffen würde. Und dass sie die richtige Leiche fand. Mord war in Elantra nicht gerade ungewöhnlich. Aber viele der Mordopfer fanden nie ihren Weg in die Türme, es war eher ein – wie der Falkenlord es ausdrückte – letzter Ausweg.
Hierher wurden die besonderen Fälle gebracht. Und der Junge? Hatte Spezialfall auf ein Drittel seines Körpers geschrieben. So wie es auf einem Drittel von ihrem geschrieben stand. Ihr wurde schwindelig, und sie musste stehen bleiben, nachdem sie durch die großen Türen getreten war. Sie fragte sich, ob es Magie war – denn Magie war der einzige Schutz, den diese Türen bedurften – oder der Schlafmangel. Oder Hunger. Aber ihre Arme taten weh, ihre Schenkel schmerzten. Alles schlechte Zeichen. Sie wäre fast umgekehrt.
Aber das konnte sie nicht. Sie war es dem Jungen schuldig, wer auch immer er war.
Sie klopfte an der ersten geschlossenen Tür und machte ihren ersten Fehler. Beim zweiten Klopfen stand es zwei zu null, und nicht zu ihrem Vorteil. Aller guten Dinge waren drei – in manchen Kreisen. Aber nicht in ihren. Sie hatte schon fast aufgegeben, aber ihre angeborene Sturheit ließ sie es ein viertes Mal versuchen, und diesmal musste sie nicht klopfen – die Tür schwang auf, als sie sie berührte.
Magie hatte natürlich keinen geringen Anteil an diesem für eine Tür äußerst untypischen Verhalten, und ihre Hand kribbelte schmerzhaft, als sie sie zurückzog. Sie war immer halb überrascht, dass diese magischen Wasauchimmer keine Narben oder Brandblasen hinterließen.
Andererseits war wenigstens Red da.
Sie hatte keine Ahnung, warum man ihn Red nannte, denn er war nicht rot. Sein Haar war schwarz, bis auf die grauen Strähnen, und sein Bart hatte die gleiche Farbe. Seine Augen waren braun, seine Haut von der Sonne gebräunt, seine Hände die Hände eines Arbeiters. Was für seinen Beruf ein wenig seltsam war. Er
trug
nicht einmal Rot. Es hätte an ihm lächerlich ausgesehen.
Aber es war der Name, auf den er hörte, wenn er überhaupt hörte, und sie hatte sich daran gewöhnt, genau wie alle anderen Falken auch.
“Red”, sagte sie. “Gott sei Dank.”
“Welcher?”
“Such ihn dir aus. Ich bin tolerant.”
Er lachte. Sonst tat das keiner. Und als sie sich umsah, wurde ihr klar, dass Red der einzige Segen in diesem Raum war. Der Falkenlord war anwesend, Marcus – verflucht – ebenfalls. Tiamaris. Severn. Mit denen konnte sie leben, sogar mit Severn.
Aber die kaiserlichen Magier waren anwesend, und sie hasste die Magier. Sie waren aufgeblasen, arrogant, selbstherrlich und vor allem mächtig. Sie hatte noch nie Vertrauen in mächtige Magier gehabt. Die kurze Geschichtslektion, die sie ertragen musste, ehe sie bei den Falken eingewiesen wurde, hatte ihr klargemacht, dass
alle
schlimmsten Verbrechen, die vor die Gesetzeslords kamen, von den Magiern untersucht wurden. Und im schlimmsten Fall? Waren sie auch von ihnen verübt worden. Sie waren wie der wandelnde Tod.
Oh, sie hatte nichts gegen ein wenig Magie, man konnte ihr an jeder dritten Straßenecke begegnen. Es war das Raffen, das abgebrühte Anhäufen, die Verschwendung, die sie störte. Besonders gerade jetzt.
“Gefreite Neya”, sagte der Falkenlord kühl, sich ihres Missfallens offensichtlich bewusst, “ich nehme an, du erinnerst dich an Callantine?”
Und sie hatten alle diese protzigen, pseudo-barranischen Namen. Was in Ordnung wäre, wenn sie Barrani
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