Kaylin und das Reich des Schattens
sie musste annehmen, dass es an einem stummen Befehl von Tiamaris lag.
“Willst du die Namen?”, fragte er leise.
Sie blickte auf und war überrascht zu sehen, dass er jetzt sie beobachtete, und nicht den Spiegel. Aber sie schüttelte den Kopf und sah weiter der Katastrophe zu, die sie nicht verhindern konnte. Die Zeit war schon immer ihr Feind gewesen, die Vergangenheit war nur ein weiterer Teil der Zeit. Wenn sie sich besonders niedergeschlagen fühlte, träumte sie davon, durch die Zeit reisen zu können, als wäre sie der Ablayne. Dann könnte sie zurückgehen, mit Wissen bewaffnet, und jeden einzelnen Tod verhindern. Sie konnte sie alle finden,
bevor
sie starben. Sie konnte sie alle heilen.
Es war ihr größter Wunsch.
“Kaylin?”
“Kannst du mir sagen, ob noch jemand anders … so etwas gemacht hat?”
“Was gemacht?”
“Die Toten auf einer Karte verzeichnet. So wie wir. Auf dieselben Informationen zugegriffen.”
“Jeder Zugriff wird aufgezeichnet”, sagte Tiamaris nachdenklich. “Aber die Information ist vertraulich –”
“Das ist mir so was von egal. Kannst du mir die Informationen besorgen?”
“Warum?”
Sie knirschte mit den Zähnen. “Weil ich sie brauche”, sagte sie.
“Nein.”
“Kannst du mir sagen, ob eine spezielle Person Zugriff hatte?”
“Welche Person?”
“Severn.”
Er zögerte. “Kaylin”, setzte er an.
“Bitte.”
“Die Anfrage wird verzeichnet”, sagte er ihr. Seine Art, sie zur Vorsicht zu mahnen. Als ob. Als sie nicht antwortete, tat er es. “Ja. Severn hatte Zugriff auf diese Informationen.”
“Wann?”
“Vor sechs Jahren.”
“Sechs Jahre – da hat er gerade erst bei den Wölfen angefangen! Ich hatte keinen Zugriff zum Archiv bis – nein, egal. Nicht so wichtig. Wurde das auch aufgezeichnet?”
“Wahrscheinlich.”
Sie fügte noch einen Strang Flüche in mehreren Sprachen hinzu. Das würde irgendeinem Gelehrten sicher viel Freude bereiten.
“Ich verstehe, warum Lord Grammayre dich als eine Herausforderung betrachtet”, sagte der Drache. Aber er lächelte, wenn auch müde, so doch ehrlich.
Sie sah zu, wie die Karte sich endlich ganz entfaltete. Sie stand neben dem Spiegel, zählte die roten, blinkenden Lichter, zählte die Toten. Benannte sie stumm, weil sie es konnte. Sie hatte sie alle getroffen, einige mehr als einmal, einige viel öfter.
“Das Einzige, was sie gemeinsam haben”, sagte sie leise.
“Ihr Ende in Nightshade.”
Sie schüttelte den Kopf. “Ich kannte sie alle. Wenigstens ihren Namen.” Sie hob eine Hand, berührte den Spiegel aber nicht, die alten Lektionen hatten sich bei ihr zu sehr eingeprägt. “Du hast recht. Es gibt kein erkennbares Muster.” Aber sie log.
“Wohin gehst du?”
“Ich hole mir was zu essen. Ich habe Hunger.” Noch eine Lüge.
Tiamaris war kein Heuchler, sein Gesichtsausdruck machte deutlich, dass er wusste, dass sie log, aber er machte ihr deswegen keine Vorwürfe.
Nach einem ereignislosen Mittagessen kehrte sie in den Turm zurück. Tiamaris war immer noch dort, und der Spiegel – was sie davon hinter seinem breiten Rücken erkennen konnte – zeigte nicht länger die Abbilder der Toten. Stattdessen war die ganze Oberfläche mit Siegeln bedeckt. Einige auf Stein, einige auf Pergament, andere auf Stoff. Sie versuchte, über seine Schulter zu spähen, doch er hob eine Hand, und der Spiegel wurde blind.
“Tut mir leid”, murmelte sie.
Er sah auf, als hätte er gerade erst gemerkt, dass sie auch im Raum war. “Entschuldigungen sind nicht nötig”, sagte er ruhig. “Aber ich glaube, Kassan will dich auf Patrouille schicken.”
“Mit wem?”
“Ich bin mir nicht sicher.”
“Also nicht mit dir.”
Er zuckte mit den Schultern. “Man schickt mich nicht oft auf Patrouille.”
“Du bist kein echter Falke.”
Er hob eine Augenbraue als seine einzige Antwort. “Kaylin”, sagte er, als sie sich zur Tür wendete, “ich habe diesen Fall fast sieben Jahre lang untersucht, aus Gründen, die nur mich etwas angehen. Ich habe eine Frage, die ich gerne von dir beantwortet hätte, aber ich werde auch dein Schweigen akzeptieren.” Seine Stimme klang merkwürdig. Sie war Falke genug, um den Ton zu verstehen, aber auch Kaylin genug, um Fragen zu stellen.
“Normalerweise musst du Schweigen nicht einfach so hinnehmen, oder?”
“Normalerweise nicht, nein. Aber an diesem Fall ist nichts normal.”
Sie zögerte und nickte dann.
“Wo hast du in den Kolonien gelebt?”
Ihm
Weitere Kostenlose Bücher