Kaylin und das Reich des Schattens
angeboten, und sie hatte nichts getan – ihre Art, sein Angebot abzulehnen.
Die erste Stunde war schweigend verstrichen. Schweigen war nie ihre Stärke gewesen. Sie mochte Leute hassen, die Stille mit möglichst vielen Worten vollstopfen mussten, nur um sie zu vermeiden, aber sie war ehrlich genug, um zu wissen, dass sie selbst kurz davor war, einer von ihnen zu werden. Im Schweigen lagen überraschende Fallen, bei Worten wusste man wenigstens meistens, wo die Stolpersteine zu finden waren.
Aber es gab Zeiten, da waren Worte so unpassend, dass es fast obszön war, sie zu benutzen. Sie schwankte zwischen beiden Impulsen, und sprach erst, nachdem die zweite Stunde angebrochen war. “Wie viele?”
Er hätte so tun können, als verstünde er nicht, was sie wollte, aber er hatte doch etwas Mitleid in sich. Auch wenn er kalt und konzentriert war, ihre Hautfarbe hatte sich auf etwas zwischen grau und grün eingespielt.
“Achtunddreißig.”
“Richtig. Das wusste ich.” Aber sie hatte es
nicht
gewusst. Sie hatte die Zahl gekannt. Sie hatte sie verstanden, so wie sie die meisten Zahlen verstand. Sie hatte der Wahrheit nie näher kommen wollen. Und das hier? Auch wenn ihre Hände die Leichen nicht tatsächlich berührten, war es fast das Gleiche. Das Archiv hatte viel weniger Mitleid als der Drache. Dort waren die Angaben klar, deutlich, knapp, und alles wurde aufgezeichnet.
Und was dort nicht stand, konnte sie sich selbst dazudenken: Den Geruch. Die Temperatur der Haut.
“Alle diese Toten wurden in Nightshade gefunden.”
Tiamaris nickte.
“Kannst du – kann das Archiv sie für mich auf einer Karte verzeichnen?”
“Es gibt kein offensichtliches Muster –”
“Kann ich einfach eine Karte bekommen?”
Er nickte. Doch als er die Hand hob, als er sich ganz zum Spiegel drehte, stellte er die erste aufdringliche Frage. “Kaylin, gibt es einen Grund, warum du
alle
ihre Namen kennst?”
Sie hatte die Namen nie laut ausgesprochen. Und da es ihr kaum etwas ausmachte, eine Lügnerin genannt zu werden, sagte sie fast Nein. Aber das würde auch nicht helfen. Die Wahrheit konnte ihr vielleicht Antworten bringen, die sie nicht bereits kannte. Aber für den Augenblick war es zu viel, und sie wechselte stattdessen das Thema. “Als ich jünger war – als die Morde passiert sind – dachte ich, es passiert ü
berall
. Wir haben nicht viel gelesen, konnten wir ja nicht. Wir hatten keine Ahnung, was außerhalb unserer Kolonie vor sich ging. Wir glaubten an Hunderte von Toten.
Wir dachten, der Stadt wäre es egal.”
“Und jetzt?”
“Jetzt ist es wohl nicht mehr wichtig, ob es euch egal war oder nicht”, sagte sie verbittert. Dann hielt sie inne. “Doch. Wichtig ist es schon. Es macht nur keinen Unterschied.”
“Und wenn es damals keinen Unterschied gemacht hat”, sagte Tiamaris, immer noch mit dem Rücken zu ihr, “dann glaubst du, dass es jetzt auch keinen Unterschied machen kann.”
Sie nickte.
“Du bist hier.”
“Ich meinte einen guten Unterschied.” Der Spiegel veränderte sich plötzlich, als hätte er sich die Zeit genommen, alle Informationen, die sie angefordert hatte, zu sammeln und zu sortieren, und sie dann auf einmal ausgespuckt. Tiamaris sagte leise etwas über zu kleine Spiegel, und zu jeder anderen Zeit hätte sie gelacht. Aber dieses Mal sah sie zu, wie sich Nightshade vor ihr ausbreitete. Es war keine Landkarte, wie man das Wort eigentlich verstand. Es war eine Luftaufnahme der richtigen Gebäude und Straßen. Es gab keine sichtbaren Schilder, aber der Spiegel hatte schmale Wörter eingefügt, die in hellem, leuchtendem Gold auf die Straßen geschrieben waren. “Die da ist falsch”, sagte sie ohne nachzudenken.
“Welche?”
“Der Straßenname da. So wird sie nicht genannt.”
“So wird sie
offiziell
genannt.”
Sie verdrehte die Augen.
“Denk daran”, sagte Tiamaris, als kleine rote Punkte auf den “offiziellen” Straßen zu erscheinen begannen, “dass diese Lichter zeigen, wo die Leichen gefunden wurden. Sie sagen nichts darüber aus, wo sie umgebracht wurden.”
Sie nickte. “Erscheinen sie in der … richtigen Reihenfolge?”
“Sie sollten in der Reihenfolge erscheinen, in der sie gefunden wurden”, sagte er. Jedes Wort wohlgewählt, um Abstand zu schaffen. Das hatte sie immer gehasst, aber heute fühlte sie sich deshalb wie eine Heuchlerin, weil sie für seinen Versuch dankbar war.
Sie sah genau zu. Der Spiegel ließ jedes neue Licht langsam aufleuchten, und
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