Kaylin und das Reich des Schattens
ausdrücken sollte.
“Das reicht nicht”, sagte eine vertraute, kalte Stimme. Als wäre sie wieder dreizehn Jahre alt. Sie fühlte sich auf jeden Fall so. “Kaylin Neya, du hast die Falken öffentlich lächerlich gemacht. Du hast vor den Augen der halben Stadt versucht, einen Soldaten der Gesetzeslords zu töten.”
Das war übertrieben. Aber sie sagte nichts dazu.
“Schlimmer noch, du hast es in den
Findelhallen
versucht. Natürlich sind dir die Findelhallen und wie sie finanziell unterstützt werden immer ein Dorn im Auge gewesen, aber sie werden von den hohen Kasten nicht vollkommen ignoriert – Menschen vor den Augen der verwaisten Kinder umzubringen überschreitet einige Grenzen, und alle in die falsche Richtung. Und du hast beides getan, während du die Uniform der Falken am Leib hattest.”
“Nicht die Dienstuniform.”
Offensichtlich war ihm der Unterschied egal. “Ich bin geduldig gewesen”, sagte er in einem Tonfall, der deutlich ausdrückte, dass seine Geduld am Ende war. “Du wirst dich erklären, und zwar jetzt. Wenn die Erklärung auch nur irgendwie befriedigend ausfällt, wird dir
vielleicht
das Privileg zuteil, weiterhin das Zeichen des Falken tragen zu dürfen. Sicherlich wird man sich mit mir in Verbindung setzen, damit ich deine Taten dem Lord der Gesetze erkläre, und Kaylin – das ist
keine
bequeme Lage. Die Falken werden dadurch deutlich geschwächt.”
Sie nickte. Mehr konnte sie nicht tun. Ehrlichkeit –
An die Falken habe ich nicht einmal gedacht
– war so weit davon entfernt, der beste Weg zu sein, dass sie versuchte, so viel Abstand zwischen sich und die Wahrheit zu legen, wie sie konnte. Es war nicht so schwer, wie sie hatte glauben wollen.
“Ich bin sehr tolerant gewesen. Dein erster Versuch, Severn zu begrüßen, ist zwar verzeichnet worden, man hat aber keine … Schritte gegen dich unternommen. Es war, das gebe ich zu, eine Schwäche, und ich bedaure sie jetzt.
Man hat dir viele Freiheiten eingeräumt. Du durftest deine Vergangenheit für dich behalten. Was die Tha’alani dir bei unserem ersten Treffen entnommen haben, hatte nur für dieses Treffen Bedeutung. Das Recht auf deine Vergangenheit hast du jetzt verloren. Sie wird entweder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, oder mir, oder du wirst diesen Turm niemals verlassen.”
Er fügte kein “lebendig” hinzu, aber er hatte sich nie die Mühe gemacht, das Offensichtliche in Worte zu fassen, außer, man zwang ihn dazu. Was sie nicht vorhatte.
“Du hast den Falken in den letzten Jahren gute Dienste geleistet. Deshalb zögere ich, die Tha’alani zu rufen.”
Sie erblasste.
“Das hast du dir verdient. Aber nicht viel mehr. Was hast du getan?”
Sie sah in den Spiegel und wendete den Blick dann wieder ab. Sie wusste, dass er genau wusste, was sie getan hatte. “Ich habe versucht, sie zu retten”, sagte sie verbittert.
Es war nicht die Antwort, die er erwartet hatte, das erkannte sie daran, wie er seine Flügel ein kleines Stück hob. Sie waren bereits halb ausgebreitet, so bedrohlich, wie ein Aerianer seines Ranges es sich erlauben konnte. Und seine Flügel? Waren blass und schön. Er selbst war blass. Schön auf eine Art, die vollkommen anders war als das erdige Ebenholz und die freundliche Zuneigung von Clint.
“Du hast versucht,
wen
zu retten, Kaylin?”
“Die Kinder”, sagte sie bitter. “Meine Kinder. Die Findlinge.”
“Indem du Severn vor der ganzen Bevölkerung von Old Nestor umbringst?”
“Indem ich Severn umbringe”, stimmte sie zu.
“Erklär es mir.”
“Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.”
“Am Anfang”, sagte er und zuckte mit den Flügeln.
“Ich weiß nicht, wo es angefangen hat.”
“Wann bist du Severn zum ersten Mal begegnet?”
“Ich weiß es nicht.” Sie schloss die Augen. So war es einfacher. Denn sonst würde an diesem Gespräch nichts einfach werden. Falls Gespräch überhaupt das richtige Wort war, wahrscheinlich wäre Verhör angemessener. “Als ich fünf Jahre alt war.”
“Fünf?”
“Fünf und ein bisschen. Ich erinnere mich nicht an den genauen Tag.” Aber sie erinnerte sich an das, was geschehen war. Vielleicht war es besser, doch die Augen zu öffnen, es gab ihr einen Halt in der Gegenwart, auch wenn die Gegenwart kaum noch Zukunft versprechen konnte. “Er war zehn Jahre alt”, fügte sie hinzu. “Wenigstens glaubten wir das. Ich
weiß
, wann ich geboren wurde. Er nicht. Wann er geboren wurde.”
“Das hatte ich verstanden. Fahre
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