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Kaylin und das Reich des Schattens

Kaylin und das Reich des Schattens

Titel: Kaylin und das Reich des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Sagara
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fort.”
    “Ich war fünf und ein bisschen.”
    “Dann sind deine Erinnerungen ohne sie dir zu entziehen nicht verlässlich.”
    Sie schluckte. “Diese schon.”
    “Oh?”
    “Ich bin fast über einen Wilden gestolpert.”
    Seine Flügel legten sich langsam zusammen, und er faltete die Arme vor der Brust. Aber sein Gesicht wurde von keinen neuen Linien durchzogen.
    “Ich war alleine draußen. Meine Mutter war krank. Sie lag im Sterben. Damals wusste ich es nicht, aber sie schon. Sie … hatte mich gebeten, nach draußen zu gehen. Um zu spielen. Hat mir gesagt, wann ich nach Hause kommen soll.” Sie zögerte.
    “Du warst auch als Kind nicht pünktlich?”
    “Nicht so richtig.” Als Kind hatte sie nicht einmal gewusst, was das Wort bedeutete. Nicht, dass ihre Mutter es benutzt hätte. “Aber ich wusste, dass es dunkel wird. Und ich –” Sie schüttelte den Kopf. “Ich habe mit Stöcken und Ringen gespielt.”
    “In den Straßen der Kolonie?”
    Sie nickte stumm.
    “Und der Wilde?”
    “Nur einer”, flüsterte sie, “und ich wäre damals dort gestorben. Ich bin erstarrt. Aber Severn war da, irgendwie, am Eingang zur Gasse, die zu unserer Wohnung führte. Und er hatte Futter. Er hat es geworfen – richtig geworfen – das muss ihm so wehgetan haben. Es war Fleisch. Was in den Kolonien als Fleisch durchgeht. Der Wilde hat gezögert, und dieser fremde, große Junge hat meine Hand genommen und mich die ganze Gasse entlanggeschleift.” Sie konnte seine Hand in ihrer spüren, spüren, wie groß sie war, wie warm und ruhig. Sie hatte damals gedacht, dass er sich nicht fürchtete. “Er kannte meinen Namen. Ich fragte nach seinem. Er hat ihn mir gesagt. Er wollte mit meiner Mutter sprechen, und das war das einzige Mal, dass er die Hand fest geschlossen hat, das einzige Mal, wo ich mich unwohl fühlte. Aber ich hatte keine Angst vor ihm.
    Ich weiß nicht, worüber sie gesprochen haben, Severn und meine Mutter. Er hat mich in der Küche warten lassen. Aber als er gekommen ist, um mich zu holen, war seine Wut verflogen. Ich glaube – jetzt – dass sie ihm gesagt haben muss, dass sie im Sterben liegt.
    Severn hat ganz in der Nähe gewohnt. Er mochte meine Mutter. Ich weiß nicht mehr, warum. Aber er hat angefangen, für sie Sachen zu erledigen, und er hat mich mitgenommen. Er ging für sie einkaufen, wenn es ihr dafür nicht gut genug ging. Das kam oft vor, aber ich hatte es immer noch nicht verstanden. Ich war so selbstsüchtig”, sagte sie. “Er war älter, und er wusste so viel, er wollte sich mit mir unterhalten, und ich war nur ein Kind”, erinnerte Kaylin sich. Diese Erinnerungen waren nicht so scharf. Die wären – ohne den Rest – fast glücklich. Das konnte sie sich nicht erlauben. “Aber als sie … blasser wurde, hörte er auf, mich so oft mitzunehmen. Ich hatte Angst, er wäre sauer auf mich, aber er war immer froh, mich zu sehen. Ich habe damals nicht verstanden, wieso ich nicht mitdurfte, noch nicht. Jetzt schon. Wahrscheinlich hat er mehr gestohlen als gekauft. Er ist normalerweise mit viel zu viel zurückgekommen. Sie hat das gehasst”, sagte Kaylin leise und sah ihre Mutter durch die Augen einer Erwachsenen, statt durch die unantastbare Treue eines Kindes. Sie sah auch die anderen Wahrheiten. “Aber wegen mir hat sie ihn nicht zu heftig zur Rede gestellt.
    Ich habe ihn angebetet”, fügte sie verbittert hinzu. “Ich habe zu ihm aufgesehen. Er war
zehn
. Und er verstand den Tod. Er wusste, dass meine Mutter den Winter nicht überstehen würde. Er hat es mir nie gesagt. Er hat uns einfach geholfen und abgewartet.”
    “Was ist dann passiert?”
    “Nachdem sie gestorben war, konnte ich nirgendwo hin. Ich konnte mir das Zimmer, das sie gemietet hatte, nicht leisten. Ich konnte mir nicht leisten, sie begraben zu lassen – nicht so, wie man Leute in der äußeren Stadt begräbt. Den Toten ist es egal – so sagen wir in den Kolonien. Die Lebenden können immer noch verhungern. Meine Mutter hat mir das in ihren letzten Wochen oft gesagt.
    Eines Morgens ist sie einfach nicht mehr aufgewacht. Ich kannte keinen Arzt. Aber ich wusste – ich wusste, dass sie nicht wieder aufwachen würde. Ich habe es versucht”, fügte sie hinzu und erinnerte sich an die schlaffe, kalte Haut im Gesicht ihrer Mutter. “Ich habe wirklich fest versucht, sie aufzuwecken.”
    “Hast du jemanden gefunden, der dir geholfen hat?”
    “Ihr versteht die Kolonien einfach nicht”, sagte sie, aber ohne Hitze in den

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