Kaylin und das Reich des Schattens
fügte sie noch hinzu, als wäre das wichtig. “Drei Wochen lang hat sie die ganze Zeit gehustet, und sie war heiß. Ich habe gedacht, sie würde sterben.
Jetzt wünschte ich, sie wäre es.”
12. KAPITEL
L ord Grammayre hob eine Hand, und der Kreis flackerte knapp vor Kaylins gespreizten Fingern auf. “Kaylin”, sagte er leise und gab ihr, ohne Worte, die Freiheit zurück, die er zu nehmen gedroht hatte.
Aber jetzt war sie schon dort, an diesem Ort, von dem sie sich selbst versprochen hatte, sie würde nie dahin zurückkehren. Es gab keinen Ausweg. Den hatte es nie gegeben. “Nein”, entgegnete sie, “ich habe diese Wahl getroffen.”
Lord Grammayre war nicht freundlich, das war er nie gewesen. Er war nicht lustig, und er zeigte keine Zuneigung. Hätte er es getan, sie hätte nie gelernt, ihm zu vertrauen. Es fehlte ihm allerdings nicht vollkommen an Güte – auch dann hätte sie ihm nie vertrauen können. “Ich glaube, ich verstehe”, sagte er leise. “Es ist keine Entschuldigung für dein Verhalten, aber ich –”
“Nein”, sagte sie mit festerer Stimme.
Seine Flügel bewegten sich nicht. Aber er ließ seine Arme an seine Seiten fallen.
“Wird das hier aufgezeichnet?”
“Der Spiegel ist aktiv.”
“Gut.” Sie atmete zischend ein. “Weil ich das hier
nie
wieder erzählen will. Steffi war das dritte Mitglied unserer Familie. Was ich damals für unsere Familie gehalten habe. Ich habe dir schon gesagt, dass sie niedlich war – und sie wusste das auch – und sie war nur ein Jahr jünger als ich, daran musste Severn mich
immer
erinnern. Aber ich fand in ihr die kleine Schwester, die ich immer wollte, und die das Glück mir nie geschenkt hat. Sie hat mich auch große Schwester genannt. Sie hat meine Kleider getragen, wenn ich nicht hingesehen habe. Sie hat mein Lieblingsessen gegessen. Manchmal wollte ich sie erwürgen. Aber ich wollte nie, dass sie uns wieder verließ. Ich habe sie geliebt”, fügte sie leise hinzu, als ob sie die Worte noch nie ausgesprochen hätte.
“Sie war fast ein Jahr bei uns, ehe wir Jade gefunden haben.”
“Jade?”
“Ich habe ihr den Namen nicht gegeben.”
“Noch ein Mädchen?”
“Noch ein Mädchen.” Kaylin nickte. “So unterschiedlich von Steffi, wie ein Mädchen es nur sein konnte. Jade war zwei Jahre jünger als ich, vielleicht zweieinhalb. Und sie war vernarbt, von der Stirn bis zur Wange. Sie war dunkler als Steffi, und ihre Haare waren ein wüster Lockenkopf, egal, was wir damit versucht haben. Sie hat nicht viel geredet.”
“Habt ihr sie im Winter gefunden?”
“Im Winter”, nickte Kaylin. “Und in der Nacht.”
Er hob eine Augenbraue.
“Die Wilden waren unterwegs. Wir haben sie vom Fenster aus beobachtet. Den Tisch hatten wir an die Wand geschoben, damit wir darauf stehen und unsere Gesichter gegen die Fensterscheibe drücken konnten. Wir hatten echtes Glas – ich glaube, Severn hat es gestohlen. Ich habe nie gefragt.
Aber ich habe sie gesehen, wie sie unter unserem Fenster durch die Straßen geschlichen ist. Sie bewegte sich verstohlen, als hätte sie vor etwas Angst – den Gang kenne ich gut. Und sie hatte auch einen Grund, ein Mann war hinter ihr her. Mit einem Messer. Ich habe Severn gerufen – Steffi und ich haben gerne nach draußen gesehen, er tat es nicht oft – und er hat sich zu uns gestellt und auch zugesehen. Dann hat er geseufzt, mich angesehen, und ich muss – ich muss ihn so angesehen haben wie früher, als ich noch dachte, er könne einfach
alles
.
Also hat er die Augen verdreht und Steffi gesagt, sie solle drinnen bleiben. Er hat ihr befohlen, nicht an die Tür zu gehen, falls jemand kommt, und sich zu verstecken, und dann rauszuschleichen, falls doch jemand eindringt. Mir gab er eine große Keule. Wir sind nach draußen gegangen um das fremde kleine Mädchen zu holen. Wir hätten sterben sollen. Es war Nacht, wir wussten es besser. Aber …” Sie zuckte fast hilflos mit den Schultern. “Die Wilden waren unterwegs.”
“Und diese … Jade?”
“Sie war ihr Abendbrot. Oder hätte es sein sollen, wenn Severn sie nicht rechtzeitig gefunden hätte. Ich erinnere mich genau. Er stand im Mondlicht, auf offener Straße. Er hatte ein langes Messer und eine Keule. Er hatte – glaube ich – Angst, aber er zeigte sie nicht. Damals wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass er Angst hatte – das weiß ich alles erst jetzt im Rückblick. Er hat Jade etwas zugerufen, und Jade wäre fast weggerannt, aber ich war
Weitere Kostenlose Bücher