Kehraus fuer eine Leiche
»Hückeswagen! Der Ort heißt Hückeswagen! Da ist die Prönsfeldt geboren! In Hückeswagen!«
»Klingt wirklich komisch«, sage ich beruhigt. Schlückchen wagen, Hückeswagen. Wie schön, Marcels Gedächtnis mithilfe von noch nicht getrunkenem Alkohol auf die Sprünge geholfen zu haben. »Dann kannst du ja jetzt ruhig schlafen.«
Wortlos geht er in die Küche. Zieht einen Stuhl ans Buffet, steigt hoch, reckt sich und holt die halb leere Flasche Single Malt aus ihrem Versteck. Ich stelle zwei Gläser auf den Küchentisch und setze mich hin.
Marcel schüttet uns einen.
»Hückeswagen«, wiederholt er befriedigt, lässt sich auf den Stuhl fallen und prostet mir finster grinsend zu. »Hückeswagen könnte uns tatsächlich weiterbringen.«
»Nur, weil die Riesenmade da geboren wurde?«
Bei seiner Antwort läuft es mir eiskalt den Rücken herunter: »Nicht nur sie. Dieses Schwein von Musiklehrer stammt auch von da. Die beiden müssen sich gekannt haben. Könnte sein, Katja, dass du auf der ganzen Linie recht hast.«
Ich verspüre keinen Triumph. Bin zu entsetzt bei dem Gedanken, den Marcel zwar nicht ausgesprochen, aber dennoch unmissverständlich formuliert hat: Dass diese Mutter ihre Töchter einem Mädchenhändler ausgeliefert haben könnte. Vielleicht eine noch üblere Vorstellung, als wenn sie unter elterlicher Aufsicht im Gnadenhof zur Prostitution gezwungen worden wären. Ich mag im Fall krimineller Machenschaften auf der Kehr jedweden Verschwörungstheorien zugeneigt sein, aber Marcels perfides Szenario geht sogar mir zu weit.
»Was hätte sie davon gehabt?«, frage ich. »Der Typ hat den Mädchen doch nur ein Taschengeld gegeben und den Rest selbst eingesackt.«
»Vielleicht ging es gar nicht um Geld«, überlegt Marcel.
»Um was denn sonst!«, entgegne ich empört. »Etwa um Liebe?«
Marcel beugt sich übers Eck vor und küsst mich sanft auf die Lippen.
»Ganz im Gegenteil«, sagt er leise. »Ich habe diese Frau bei unserer Vernehmung genau beobachtet. Irgendwie hat mich gestört, wie sie ihre Tochter angesehen hat. Das war ein sehr unangenehmer Blick.«
»Sie hat von euch schließlich mehr als nur etwas sehr Unangenehmes über ihre Tochter zu hören bekommen«, verteidige ausgerechnet ich Frau Pee. »Da würde ich mein Kind auch voller Entsetzen anblicken.«
»Aber nicht voller Hass«, sagt Marcel. »Als Polizist habe ich gelernt, solch einen Blick zu interpretieren. Ihn bei Petra Prönsfeldt jedoch nicht gleich einordnen können. Weil es unvorstellbar war. Jetzt bin ich mir sicher: Die Frau hasst ihre schönen Töchter.«
20_ERINNERUNG
Mittwochmorgen
Etwas kitzelt mich an der Wange. Verschlafen hebe ich mein Gesicht dem mutmaßlichen Schnurrbart entgegen und strecke die Arme aus. So flach und struppig kann Marcel über Nacht nicht geworden sein. Erschrocken öffne ich die Augen. Der belgische Polizeibeamte hat sich in einen frisch erblühten Forsythienzweig verwandelt. Jedenfalls liegt der jetzt auf dem Kissen neben mir.
Mit Linus im Haus wäre es Marcel nie gelungen, mir durch die Blume einen guten Morgen zu wünschen. Der Hund wäre auf das Bett gesprungen und hätte den Frühlingsgruß geknackt. Nein, Linus hätte sich schon vorher auf die frei gewordene Stelle geworfen, und ich wäre unsanft geweckt worden.
Trotzdem fehlt mir der Hund. Es ist zu still im Haus. Ich könnte den Marder über den Speicher huschen hören. Aber der nagt vermutlich gerade die Bremsschläuche meines Autos an. Jeden Frühling schlägt er zu; da kann ich noch so viele Hundehaare, WC-Steine oder elektronische Piepgeräte im Motorraum anbringen. Heins Rote Zora rührt das Vieh nicht an. Mein Auto ist eben bei Mördern und Mardern auf der Kehr gleichermaßen beliebt.
Beide laufen hier frei herum.
Dass zwei Morde aufgeklärt werden müssen, ist für mich seit gestern in den Hintergrund getreten. Das Schicksal der beiden Prönsfeldt-Mädchen beschäftigt mich erheblich mehr. Die Frage, ob Marcel recht hat. Wenn zwei Leute im gleichen Alter aus dem gleichen kleinen Ort stammen, muss das längst nicht heißen, dass sie ein gemeinsames kriminelles Ziel verfolgen. Der Mann war tatsächlich ausgebildeter Musiklehrer. Frau Pee kann das gewusst haben, und deswegen hat Herr Pee auch Vertrauen zu ihm gefasst. Wahrscheinlich leben die Prönsfeldts schon zu lange in Belgien, als dass sie seinen Rausschmiss wegen sexueller Belästigung mitbekommen haben. Sie haben ihm ihre Töchter guten Glaubens anvertraut. Zumal sich der Mann
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