Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
Aufenthalt der Briganten, der ihnen durch das Mädchen Godard und die Dame Bryond ermöglicht wurde? Sie schützt ihren tiefen Schlaf vor, sie versteckt sich hinter ihrer angeblichen Gewohnheit, abends um sieben Uhr zu Bett zu gehen, wußte aber auf die Bemerkung des Untersuchungsrichters, daß sie dann doch mit Tagesanbruch aufstünde und sodann etliche Spuren des Komplotts und die Anwesenheit so vieler Leute hätte bemerken und sich über das nächtliche Fortgehen und Wiederkommen ihrer Tochter beunruhigen müssen, nichts zu erwidern. Sie hielt dem nur entgegen, daß sie im Gebet versunken gewesen sei. Diese Frau ist das Musterbild einer Heuchlerin. Ihre Reise am Tage des Verbrechens, die Mühe, die sie sich gibt, ihre Tochter nach Mortagne zu bringen, ihre Fahrt mit dem Gelde, ihre eilige Flucht, als alles entdeckt war, die Sorgfalt, mit der sie sich versteckt, ihr Verhalten bei ihrer Festnahme – alles beweist, daß sie als Mitschuldige seit langer Zeit beteiligt war. Sie hat nicht gehandelt wie eine Mutter, die ihre Tochter eines besseren belehren und sie der Gefahr entziehen will, sondern wie eine Mitschuldige, die zittert; und ihre Mitschuld war nicht der Ausfluß übermäßiger Zärtlichkeit, sondern die Folge des Parteigeistes, der wohlbekannte Haß gegen die Regierung Seiner Kaiserlichen und Königlichen Majestät. Auch ein Übermaß von mütterlicher Zärtlichkeit würde sie nicht entlasten, und es darf nicht übersehen werden, daß ihre seit langem und mit Vorbedacht gegebene Zustimmung den klarsten Beweis ihrer Mitschuld liefert.
Ebenso wie über die Tatsachen des Verbrechens ist auch über seine Anstifter Klarheit geschaffen. Es zeigt sich dabei eine abscheuliche Vereinigung von wütendem Fanatismus mit Verleitung zum Raube und zum Morde, wozu der Parteigeist angestiftet hat, auf den man sich zu berufen versucht, um vor sich selbst die niedrigsten Missetaten zu rechtfertigen. Die Anführer geben das Signal zum Raube von Staatsgeldern, um Geld für die schlimmsten Verbrechen zu beschaffen; elende wilde Söldner übernehmen um niedrigen Lohn die Ausführung und scheuen auch nicht vor dem Morde zurück; und die nicht weniger schuldigen Helfershelfer der Rebellen unterstützen das Verteilen und Verstecken der Beute. Welche menschliche Gesellschaft darf solche Attentate dulden? Keine Strafe ist dafür streng genug.
Deshalb wird der Sondergerichtshof für Strafsachen über die vorbezeichneten Angeklagten Herbomez, Hiley, Cibot, Grenier, Horeau, Cabot, Minard, Melin, Binet, Laravinière, Rousseau, die Frau Bryond, Léveillé, die Frau Bourget, Vauthier, den älteren Chaussard, Pannier, die Witwe Lechantre und Mallet, alle bereits näher bezeichnet und hier anwesend, und die schon benannten Boislaurier, Dubut, Courceuil, Bruce, den jüngeren Chaussard, Chargegrain, das Mädchen Godard, diese sämtlich flüchtig, das Urteil zu fällen haben, ob sie schuldig oder nicht schuldig der in dieser Anklageschrift erwähnten Handlungen sind.
Caen , den 1. Dezember 180...
Die Staatsanwaltschaft. Gezeichnet: Baron Bourlac.«
Diese Anklageschrift, die viel kürzer und bestimmter abgefaßt war als die heutigen, die so peinlich genau und eingehend sich mit allen Nebenumständen und besonders mit dem Vorleben der Angeklagten befassen, erregte Gottfried aufs tiefste. Der trockene Stil, in dem die amtliche Feder mit roter Tinte die Hauptumstände der Sache darstellte, setzte seine Phantasie in Tätigkeit. Zusammenfassende, präzise Berichte sind für manche Geister Texte, in die sie sich eingraben, um sich in ihre geheimnisvollen Abgründe zu vertiefen.
Mitten in der Nacht, in der Stille und Dunkelheit, die ihn umgab, und im Nachsinnen über die furchtbaren Beziehungen zwischen diesem Schriftstück und Frau de la Chanterie, die der gute Alain ihn hatte ahnen lassen, wandte Gottfried all seinen Scharfsinn auf, um sich über diesen Punkt Aufklärung zu verschaffen.
Sicher mußte der Name Lechantre der Stammname der de la Chanterie sein, in den man unter der Republik und dem Kaiserreich ihren Aristokratennamen geändert hatte.
Er sah die Landschaft, in der sich diese Tragödie abgespielt hatte, vor sich. Die Figuren der Mitschuldigen zweiten Ranges zogen an seinem Auge vorbei.
Seine Phantasie stellte sich nicht einen gewissen Rifoël, sondern einen Chevalier du Vissard vor, einen jungen Mann, der etwa dem Fergus Walter Scotts ähnlich und eine Art französischer Jakobit war. Er erlebte den Roman eines jungen Mädchens
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