Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
bin ich faul und ein Spieler... Ziehen Sie Ihre Schlüsse daraus, junger Mann!... Sie sind noch zu jung, um über alte Leute urteilen zu können.«
Gottfried schwieg.
»Nach dem, was Sie mir sagen, handelt es sich um die Enkelin dieses Dummkopfs, der nicht den Mut hatte, sich zu schlagen, und sein Land an Katharina II. ausgeliefert hat?«
»Jawohl, mein Herr.«
»Seien Sie am Montag um drei Uhr bei der Kranken«, sagte der Arzt, nahm seine Pfeife aus dem Munde und schrieb einige Worte in sein Notizbuch. »Wenn ich komme, werden Sie mir zweihundert Franken übergeben, und wenn ich mich für die Heilung verbürge, tausend Taler... Man hat mir erzählt, fuhr er fort, »daß die Dame zusammengeschrumpft ist, als ob sie ins Feuer gefallen wäre.«
»Nach der Ansicht der berühmtesten Arzte von Paris handelt es sich um eine Neurose, deren verwüstende Wirkungen solche sind, daß sie sie leugneten, solange sie sie nicht selbst gesehen hatten.«
»Ach, ich erinnere mich jetzt an die Einzelheiten, die mir der kleine Kerl berichtet hat... Also auf morgen, mein Herr.«
Gottfried entfernte sich, nachdem er sich von dem ebenso seltsamen wie ungewöhnlichen Manne verabschiedet hatte. Nichts an ihm zeigte, nichts verriet einen Arzt, selbst nicht sein kahles Empfangszimmer, dessen einziges ins Auge fallendes Möbel die riesige Kassette von Huret oder Fichet war.
Gottfried langte noch rechtzeitig in der Passage Vivienne an, um vor Schluß des Geschäfts ein prächtiges Akkordeon zu kaufen, das er, nach Angabe der Adresse, vor seinen Augen an Herrn Bernard schicken ließ.
Dann begab er sich nach der Rue Chanoinesse über den Quai des Augustins, wo er noch eins der Buchhändlergeschäfte offen zu finden hoffte; in der Tat entdeckte er ein solches und hatte dort mit einem jungen Angestellten eine lange Unterredung über juristische Bücher.
Er traf Frau de la Chanterie und ihre Freunde, als sie aus der Hauptmesse heimkehrten; auf den ersten Blick, den sie ihm zuwarf, antwortete Gottfried mit einem verständnisvollen Kopfnicken.
»Ist unser lieber Vater Alain nicht bei Ihnen?« sagte er dann.
»Er kommt diesen Sonntag nicht«, erwiderte Frau de la Chanterie; »Sie werden ihn erst heute in acht Tagen zu sehen bekommen ... es sei denn, daß Sie ihn an dem angegebenen Treffpunkt aufsuchen wollen.«
»Sie wissen ja, gnädige Frau,« sagte Gottfried leise zu ihr, »daß er mich weniger einschüchtert als die andern Herren, ich rechnete darauf, ihm meinen Bericht abstatten zu können.«
»Und ich?«
»Oh, Ihnen würde ich alles sagen, und ich habe viel zu erzählen. Ich habe bei meinem ersten Debüt das eigenartigste Unglück vorgefunden, eine tolle Mischung von Elend und Luxus; dazu Menschen von einer erhabenen Gesinnung, die alle Phantasien unserer beliebtesten Romandichter hinter sich lassen.«
»Die Natur, und vor allem die seelische Seite der Natur, steht immer über der Kunst, ebenso wie Gott immer über seinen Geschöpfen steht. Aber kommen Sie und erzählen Sie mir«, fuhr Frau de la Chanterie fort, »von Ihrer Expedition in die unbekannten Länder, in die Sie Ihre erste Reise geführt hat.«
Herr Nikolaus und Herr Joseph – der Abbé de Vèze war noch für kurze Zeit in Notre-Dame zurückgeblieben – ließen Frau de la Chanterie allein mit Gottfried, der, noch unter dem Eindruck der Erregung des vorhergehenden Abends, alles bis auf die kleinsten Einzelheiten schilderte, und zwar mit der Frische und Verve, die der erste Eindruck eines solchen Schauspiels mit seinen handelnden Personen und seinen Kulissen hervorruft. Er hatte großen Erfolg damit, denn die sanfte ruhige Frau de la Chanterie mußte weinen, so sehr sie daran gewöhnt war, in die Abgründe des Elends hinabzusteigen. »Sie haben recht daran getan,« sagte sie, »daß Sie das Akkordeon hingesandt haben.«
»Ich möchte gern noch mehr tun, erwiderte Gottfried, »da diese Familie ja die erste ist, die mich die Freude, wohlzutun, kennengelehrt hat; ich möchte diesem edlen Greise den größten Teil des Gewinns an einem großen Werke zuwenden. Ich weiß nicht, ob Sie genügend Vertrauen zu meinen Fähigkeiten haben, um mich in den Stand zu setzen, ein solches Geschäft selber in die Hand zu nehmen. Nach den Erkundigungen, die ich eben eingezogen habe, sind für die Drucklegung des Buches bei einer Auflage von fünfzehnhundert Exemplaren etwa neuntausend Franken erforderlich, während ihr geringster Wert mit vierundzwanzigtausend Franken anzunehmen wäre. Da
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