Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
Chanterie, die Bedenken wegen der Einsamkeit der Gegend hatte, nötigte ihn, einen Wagen zu nehmen. Als er den Wagen verließ, vernahm Gottfried, obwohl die Fensterläden so sorgfältig geschlossen waren, daß kein Lichtstrahl hindurchdrang, die Töne des Instruments; und sobald er auf dem Treppenabsatz anlangte, öffnete August, der jedenfalls auf ihn gewartet hatte, die Tür der Wohnung und sagte:
»Mama möchte Sie gern begrüßen, und mein Großvater läßt Sie zu einer Tasse Tee bitten.«
Als Gottfried eintrat, fand er die Kranke von der Freude, Musik machen zu können, ganz verändert, ihr Gesicht leuchtete, und ihre Augen funkelten wie zwei Diamanten.
»Ich hätte eigentlich mit dem Anschlagen der ersten Akkorde auf Sie warten sollen; aber ich habe mich auf die kleine Orgel gestürzt wie ein Verhungerter auf ein Festmahl. Sie besitzen eine Seele, die mich verstehen wird, also ist mir verziehen.«
Wanda gab ihrem Sohn einen Wink, der sich näherte und die Pedale trat, die dem Instrument die Luft zuführten; und die Augen nach oben gerichtet, wie die heilige Cäcilie, wiederholte die Kranke, deren Finger vorübergehend ihre Kraft und Fertigkeit wiedererlangt hatten, Variationen über das Gebet Mosis, das ihr Sohn ihr gekauft, und die sie in wenigen Stunden komponiert hatte. Gottfried stellte fest, daß sie eine Begabung wie Chopin besaß. Es war eine Seele, die sich in himmlischen Tönen, bei denen eine sanfte Melancholie vorherrschte, kundgab. Herr Bernard hatte Gottfried mit einem Blick begrüßt, in dem ein seit langem verschwundenes Gefühl zum Ausdruck kam. Wenn die Tränen bei diesem, von so vielen brennenden Schmerzen ausgetrockneten Greise nicht für immer versiegt wären, dann würde dieser Blick feucht gewesen sein. Das sah man.
Herr Bernard spielte mit seiner Dose und betrachtete seine Tochter mit unaussprechlichem Entzücken.
»Morgen, gnädige Frau,« begann Gottfried, als die Musik verstummt war, »morgen wird sich Ihr Schicksal entscheiden, ich bringe gute Nachrichten. Der berühmte Halpersohn wird morgen um drei Uhr zu Ihnen kommen. – Er hat mir versprochen,« sagte er leise zu Herrn Bernard, »daß er mir die Wahrheit sagen wird.«
Der Alte erhob sich, nahm Gottfried bei der Hand und zog ihn in den Winkel des Zimmers neben dem Kamin; er zitterte.
»Ach, was werde ich für eine Nacht verbringen! Es ist die endgültige Entscheidung!« sagte er leise zu ihm. »Meine Tochter wird geheilt werden, oder sie ist verloren!«
»Fassen Sie Mut,« erwiderte Gottfried, »und kommen Sie nach dem Tee zu mir herüber.«
»Hör' auf, mein Kind, hör' auf,« sagte der Alte jetzt, »du wirst wieder einen Anfall bekommen. Auf solche Kraftanstrengungen folgt die Erschöpfung.«
Er ließ das Instrument von August wegnehmen und reichte seiner Tochter ihre Tasse Tee mit der ganzen einschmeichelnden Art einer Amme, die der Ungeduld eines kleinen Kindes vorbeugen will.
»Wie ist dieser Arzt denn?« fragte sie, die die Aussicht, ein neues Wesen zu Gesicht zu bekommen, schon auf andere Gedanken gebracht hatte.
Wanda war, wie alle Gefangenen, von Neugierde verzehrt. Wenn die physischen Erscheinungsformen ihrer Krankheit schwanden, schien sich diese auf das Psychische zu werfen; sie hatte dann wunderliche Launen und phantastische Gelüste. Sie wollte Rossini sehen, und sie weinte darüber, daß ihr Vater, den sie für allmächtig hielt, sich weigerte, ihn zu ihr zu bringen.
Gottfried gab nun eine minutiöse Beschreibung des jüdischen Arztes und seines Sprechzimmers, denn sie wußte nichts von den Schritten, die ihr Vater schon getan hatte. Bernard hatte seinem Enkelsohn über die Besuche bei Halpersohn Schweigen auferlegt, so sehr fürchtete er, bei seiner Tochter Hoffnungen zu erregen, die dann nicht erfüllbar gewesen wären. Wanda hing an den Lippen Gottfrieds, sie war entzückt und verfiel in eine Art von Tollheit, so brennend wurde ihr Wunsch, den fremden polnischen Juden zu Gesicht zu bekommen.
»Polen hat oft solche eigenartige, geheimnisvolle Wesen hervorgebracht«, sagte der alte Richter. »Heute haben wir zum Beispiel außer diesem Arzte Hoëné Wronski, den erleuchteten Mathematiker, den Dichter Mickiewicz, den Hellseher Tawianski und Chopin mit seinem übernatürlichen Talent. Große nationale Umwälzungen bringen immer solche Arten von Halbgiganten hervor.«
»Ach, lieber Papa, was bist du für ein Mann! Wenn du alles, was du uns hören läßt, bloß um mich zu unterhalten, niederschriebest,
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