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Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Titel: Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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ihre Kräfte angestrengt!«
    Und der Greis drückte Gottfried die Hand und eilte in seine Wohnung.
    Am nächsten Morgen klopfte Gottfried um acht Uhr früh an die Tür des berühmten polnischen Arztes. Er wurde von einem Kammerdiener in die erste Etage des kleinen Hauses geführt, daß er betrachten konnte, während der Portier den Diener aufgesucht und benachrichtigt hatte.
    Glücklicherweise ersparte, wie er sich das gedacht hatte, seine Pünktlichkeit Gottfried die Unannehmlichkeit, warten zu müssen; er war jedenfalls der zuerst Gekommene. Aus einem sehr bescheidenen Vorzimmer gelangte er in ein großes Arbeitszimmer, wo er einen Greis im Hausrock vorfand, der eine lange Pfeife rauchte. Der abgeschabte Hausrock rührte wohl schon aus der Zeit der Flucht aus Polen her.
    »Womit kann ich Ihnen dienen?« sagte der jüdische Arzt. »Sie sind doch nicht krank!«
    Und er richtete auf Gottfried den neugierigen durchdringenden Blick der Augen eines polnischen Juden, dieser Augen, die hören zu können scheinen.
    Zum lebhaften Erstaunen Gottfrieds war Halpersohn ein Mann von sechsundfünfzig Jahren, mit kleinen krummen Beinen und einem breiten, mächtigen Oberkörper. Er hatte etwas von einem Orientalen, in seiner Jugend mußte sein Gesicht sehr schön gewesen sein; davon war jetzt nur noch eine jüdische Nase übriggeblieben, lang und krumm wie ein Damaszenersäbel. Die breite, edle, offenbar polnische Stirn, die mit Runzeln durchfurcht war wie ein zerknittertes Stück Papier, erinnerte an die des heiligen Josephs auf alten italienischen Bildern. Die meergrünen, wie bei Papageien mit grauer faltiger Haut umgebenen Augen drückten List und Habsucht in hohem Grade aus. Der wie eine Wunde eingeschnittene Mund gab dieser düsteren Physiognomie noch die volle Schärfe des Mißtrauens. Das blasse magere Antlitz, denn Halpersohn war von auffallender Magerkeit, das von grauen, schlecht gekämmten Haaren bekrönt war, hatte als Schmuck einen langen, sehr starken schwarzen, graugesprenkelten Bart, der die Hälfte des Gesichts verdeckte, so daß man nur die Stirn, die Augen, die Nase, die Backenknochen und den Mund sehen konnte.
    Der Freund des Revolutionärs Lelewel trug ein schwarzsamtenes Käppchen, das mit einer Ecke über die Stirn hinabhing und den gelblichen, des Pinsels eines Rembrandt würdigen Teint nicht hervortreten ließ.
    Die Frage des ebenso durch seine Begabung wie durch seine Habsucht berühmt gewordenen Arztes überraschte Gottfried ein wenig, der sich sagte: ›Sollte er mich für einen Dieb halten?'‹
    Die Antwort auf diese Frage gab der Tisch und der Kamin des Doktors. Gottfried glaubte als erster gekommen zu sein und war der letzte. Die Patienten hatten auf dem Kamin und dem Tischrand schon genügend reichliche Opfergaben niedergelegt; Gottfried sah Stapel von Zwanzigfrankenstücken, Vierzigfrankenstücken und zwei Tausendfrankenscheine. War dies das Ergebnis eines Morgens? Er bezweifelte das stark und glaubte an irgendeine kluge Vorspiegelung. Vielleicht wollte der habgierige, aber unfehlbare Doktor seine Einnahmen vermehren, indem er so seine Patienten, die er sich unter den Reichen auswählte, glauben ließ, daß man ihm Goldrollen statt Anweisungen brächte.
    Moses Halpersohn hatte übrigens einen Anspruch auf hohe Honorare, denn er heilte seine Kranken wirklich, und er heilte gerade die verzweifelten Krankheiten, auf deren Heilung die Medizin verzichten mußte. Man weiß in Europa noch nicht, daß die slawischen Völker viele Geheimmittel besitzen; sie kennen eine Fülle solcher unfehlbarer Mittel infolge ihrer Beziehungen zu den Chinesen, Persern, Kosaken, Türken und Tartaren. Manche als Zauberinnen geltenden Bäuerinnen heilen mit Kräuteraufgüssen vollkommen die Tollwut. Es gibt in diesem Lande eine Reihe von Beobachtungen, die nicht niedergeschrieben sind, über die Wirkungen gewisser Pflanzen und zerstoßener Baumrinden, die, von Geschlecht zu Geschlecht überliefert, wunderbare Kuren zustande bringen.
    Halpersohn, der infolge seiner Pulver und seiner Medizinen fünf bis sechs Jahre lang für einen Kurpfuscher galt, besaß die großen Ärzten angeborene Begabung. Er war nicht nur ein Gelehrter und hatte nicht nur vieles beobachtet, er hatte auch Deutschland, Rußland, Persien und die Türkei durchreist und dort viele Überlieferungen gesammelt; und da er in der Chemie Bescheid wußte, wurde er zu einer lebendigen Bibliothek der zerstreuten Geheimnisse der »weisen Frauen«, wie man in Frankreich

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